Book Review / Рецензия книг / Buchbesprechung: Oerter, Rolf (2014): Der Mensch, das wundersame Wesen. Was Evolution, Kultur und Ontogenese aus uns machen.

By Markus Meier | April 28, 2016

Oerter, Rolf (2014): Der Mensch, das wundersame Wesen. Was Evolution, Kultur und Ontogenese aus uns machen. Heidelberg: SpringerSpektrum. [(442 Seiten; Preis: 29,99 Euro; ISBN: 978-3-658-03321-7 (Print), 978-3-658-03322-4 (Online)]

Rolf Oerter dürfte den meisten Pädagogen durch sein Standardwerk “Entwicklungspsychologie” bekannt sein. Sein neues Buch “Der Mensch, das wundersame Wesen (…)” ist bei SpringerSpektrum erschienen und widmet sich dem “wundersamen” Thema der pädagogischen Anthropologie. Erklärte Absicht des Emeritus ist dabei, über den Zaun seiner Fachdisziplin “Entwicklungspsychologie” hinauszuschauen und letztere in das Spannungsfeld von biologischer Evolution, kultureller Sozialisation und persönlicher Entscheidungsfreiheit zu stellen – wie wirken diese drei bei der Bildung von Individuen zusammen? Dass er sich mit einem so weit gefassten theoretischen Rahmen automatisch den Gefahren einer jeden “grand unified theory” aussetzt – pathetischer Tonfall bei Grosszügigkeit im Detail – ist dem Autor wohl bewusst, er reflektiert dieses ironisch am Ende jeden Kapitels in der Form eines “Gesprächs antiker Götter über ihre Menschen”. Im Vorwort bezeichnet er seinen Beitrag denn auch realistisch-bescheiden als Anregung zu einer interdisziplinären Diskussion, “die heute dringend angegangen werden muss”. Drei Diskurstraditionen will er dabei berücksichtigt wissen:

  1. Die soziobiologische und evolutionspsychologische, die seit Tooby/Cosmides bahnbrechendem Werk “The adapted mind – evolution and the generation of culture” (1992) eine Fülle faszinierender Vorschläge zum Verständnis menschlicher Kultur und ihrer Genese gemacht hat,
  2. die inzwischen “klassischen” pädagogisch-psychologischen Sozialisationsdiskurse, die durch ihre Institutionalisierungserfolge seit den 1960er Jahren geradezu akademische Monopolstellungen einnehmen und verteidigen, und
  3. den philosophisch-idealistischen Diskurs um Entscheidungsfreiheit, Selbstbestimmung und menschliche Würde.

Wie kann die teilweise geradezu feindliche Funkstille zwischen den drei Diskursen, die höchstens durch das Drohen mit Schlagwort-Keulen wie „Biologismus”, „Konstruktivismus“ oder „Provinzialismus” kurzzeitig unterbrochen wird, wie kann dieses unfruchtbare Sich-Meiden überwunden und in eine lebhafte Diskussion in Pädagogik und Psychologie verwandelt werden? Oerter schlägt ein “EKO-Modell” vor, das sich aus E=Evolution, K=Kultur und O=Ontogenese zusammensetzt – diese drei seien konstitutive Säulen, die er in eigenen Grafiken auch anschaulich so darstellt. Der Gang seiner Argumentation geht dabei streng diachron von der Entstehung der Einzeller bis zur „Krönung menschlichen Denkens durch die Wissenschaft“ (S. 309) und darüber hinaus vor, ohne dass allerdings klar würde, in welchem Verhältnis die drei ständen, ob sie etwa sukzessiv, hierarchisch, alternierend, gleichberechtigt, interdependent, alternativ, oder wie auch immer zu verstehen seien.

Die ersten 100 des Buches sind eine Wiederholung von Fakten zur Evolution, die vielen Lesern aus dem Biologieunterricht der Oberstufe vertraut sein dürften. Nicht umsonst zitiert der Autor denn auch Quellen wie GeoSpezial und TimeLife und unterstreicht dadurch den (auch) populärwissenschaftlichen Anspruch seiner Arbeit, wobei leider die schlampige Redaktion des Springerverlages das Lesevergnügen trübt, kaum eine Seite weist keine Druckfehler auf, einige Grafiken wirken unprofessionell-dilettantisch, beim Preis von 29,99 Euro durchaus ein Ärgernis.

Im zweiten Teil behandelt der Autor die Interdependenz von Kultur und Evolution, Evolution und Kultur und widmet sich dabei auch der Streitfrage nach “Universalismus und Kulturalismus” in der Pädagogik: Wären Menschen v.a. durch ihr evolutionsbiologisches Erbe bestimmt, so dürfte man von einer universellen menschlichen Natur ausgehen, die Sozialisation und Erziehung jeweils “nur” (über-)formten. Wären Menschen hingegen v.a. durch ihre Umwelt formbar und geformt, so dürfte die Tatsache einer “vorzeitlichen” biologischen Zusammengehörigkeit vernachlässigbar sein, damit evtl. aber auch die Reichweite möglichen interkulturellen Verständnisses und vielleicht sogar Verstehens. Oerter rekurriert hier auf seine eigenen Arbeiten zu “Stufen des Menschenbildes” aus den 1990er Jahren in Südostasien, Europa, Nord- und Südamerika und konstatiert, “(d)iese Strukturniveaus [in der ontogenetischen Entwicklung der Menschenbilder] sind als Wissensstrukturen und nicht nur als inhaltsleere formale Strukturen aufzufassen. Damit lässt sich das Prinzip kultureller Universalität mit dem Prinzip der Kulturspezifität verbinden: die formale Seite der Struktur bildet universelle Merkmale des Menschenbildes ab, ihre inhaltliche Seite kennzeichnet die spezifisch kulturellen (oder individuellen) Merkmale.” (S. 183)

Der dritte Teil gerät sehr umfangreich und behandelt so diverse Themen wie den “homo ludens”, Ästhetik und Kreativität, Religion (und die obligatorische Kritik daran), menschliches Denk- und Urteilsvermögen, menschlicher Geist und menschliche Freiheit. Zentrales Anliegen ist es dabei, im Sinne des “EKO-Modells” eine Brücke zu schlagen zwischen der biologisch einzigartigen Evolution des hyperkomplexen menschlichen Gehirns als kognitiver “hardware” von Denken und Bewusstsein einerseits, und seiner Abhängigkeit von Welterfahrung, Kommunikation und Sozialität andererseits, eine Brücke aber auch zu seinem eigenartigen, “leib-geistigen” Verhältnis zu sich selbst, seiner unausweichlichen, selbst-bewussten Entscheidungsfreiheit, seiner merkwürdigen Zeitenthobenheit in Denkprozessen als “zweiter Realität” und nicht zuletzt zu seiner spezifisch menschlichen Fähigkeit, sich durch Lernprozesse selbst zu restrukturieren (in diesem Moment etwa durch das Lesen einer Rezension …). Das ist ein wahrhaft weites Feld, und die Argumentation versteigt sich dabei manchmal in philosophische Höhenzüge (bildungs-)politischer, philosophischer und kulturhistorischer Spekulation, die der Autor nicht immer sicher meistert. Dass etwa der griechische Philosoph Parmenides eine “sehr schlaue, wenn auch heute absurd erscheinende” (S. 374) Philosophie vertrat (und nicht etwa eine Begründung ontologischen Philosophierens, den Platon selbst im gleichnamigen Dialog “unseren Vater Parmenides” nennt, vom Einfluss auf etwa Hegel oder Heidegger zu schweigen …), dieses ist eine Einschätzung, die nicht alternativlos ist. Alternativlos hingegen sicherlich, allerdings auch etwas hausbacken, ja deplatziert-beliebig dann die Kritik an Hitler, Stalin und Pol Pot und die Mahnung “Es wird Zeit, Ideologien aufzugeben (…)” (S. 425) zum Schluss des Buches – Altersweisheiten ohne konkreten Themenbezug. Andere Ausführungen etwa zu Entscheidungsfindungsprozessen und Volitionsforschung, Altruismus und Korruption, Kreativität und Entwicklung, aber auch seine Interpretation von Poppers “Offener Gesellschaft” zwischen Entwicklungs- und Evolutionspsychologie hingegen sind innovativ und gut verständlich formuliert, hier ist Oerter in seinem Element, hier schöpft ein Experte aus dem Vollen seiner langjährigen Lehr- und Forschungserfahrung, die er generell zum Schluss jedes Kapitels mit einer umfangreichen Literaturempfehlung versieht. Personen- und Sachregister sollen die Orientierung erleichtern, sind allerdings leider ebenfalls nur mangelhaft zusammengestellt (die oben erwähnten Autoren Parmenides und Platon etwa tauchen dort nicht wieder auf …).

Seine Stärke und seinen innovativen Impuls zieht das Buch aus seinem Anspruch, Diskussionsanregung zu sein für einen Austausch zwischen drei Traditionslinien pädagogisch-psychologischer Literatur, die sich bisher (leider) weitgehend ignorieren – nicht mehr und nicht weniger. Dabei referiert es in gut verständlicher Diktion eine Fülle von durchweg aktuellen, teilweise faszinierenden Forschungsergebnissen, die ein neues pädagogisches Forschungsfeld zwischen Evolutionsbiologie, Sozialisationstheorien und philosophischer Anthropologie begründen helfen sollen. Dass bei einer solchen “pionierhaften” Arbeit manche gedanklichen Verbindungen “rohbaulich” bleiben, weniges auch missglückt ist, ist verkraftbar und vielleicht unvermeidlich. Oerters Buch erscheint 10 Jahre nach Scheunpflugs “Biowissenschaften und Erziehungswissenschaft” der erste grössere Versuch einer Modernisierung der Bildungswissenschaften durch den Einbezug einer neuen Referenzwissenschaft. Als solchem sind ihm viele aufmerksame Leser und eine anschliessende lebhafte Debatte zu wünschen.

Rezensiert von Prof. Dr. Markus Meier, Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaften an der Universidad Externado de Colombia (Kolumbien). Von ihm ist in www.ide-journal.org erschienen: “Die Geschlechterdichotomie in edukativen Kontexten” (IDE, Nr. 1-2015) und “Reizwort ´Darwin´” (IDE, Nr. 3-2015). Kontakt: markus.meier@uexternado.edu.co

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