„Ein Backofen voller Liebe“ – Luthers Rede von Gott im Kontext (früh)kapitalistischer Zivilisation

By Gottfried Orth | May 5, 2017

Summary (Gottfried Orth: “An Oven Full of Love” – Luther’s Speech on God in the Context of (Early) Capitalist Civilization): Martin Luther’s writings contain a waelth of economic analyses and perspectives on the beginning capitalist changes in the economy and society of his time. In this case, his economic considerations did not pertain to areas of ethics or ethics in the area of economics, but explitely theological analyses and perspectives, ones that originated from the First Commandment: they are about god or false gods, the god of the Christian faith or the mammon of the emerging „for profit“ economy. With this, Luther takes up the Jesuanic alternative version of god or mammon emphasized in the New Testament. The author outlines Luther’s deliberations and, in the context of the „Radicalizing Reformation“ project, further calls for contemporary critical perspectives on capitalism as well as conceptions of god in the vein of and in line with Luther’s theology, which can support current faith orientations in the engagement with economic and social developments.
Keywords: Martin Luther, early capitalism, god or mammon, economical ethics, radicalizing reformation

Резюме (Готтфрид Орт: «Духовка полная любви» – Речь Лютера о Боге в контексте (ране) капиталистической цивилизации): Труды Мартина Лютера содержат ряд экономических анализов и перспектив начинающихся капиталистических изменений экономики и общества его времени. При этом его экономические размышления не были теми, которые он, прежде всего, причислял к области этики или экономической этики, но для него это были определенно теологические анализы и перспективы, такие, для которых исходным пунктом является первая заповедь: речь идет о Боге или кумире, о Боге христианской вере или о мамоне начинающейся «спекулятивной» экономики. Тем самым Лютер принимает альтернативу Бога и мамона, акцентированную в Новом Завете Иисусом. Автор излагает размышления Лютера и спрашивает, размышляя в контексте проекта «Радикальная Реформация», об актуальных критических для капитализма перспективах, а также о понимании Бога в направлении и линии теологии Лютера, которое может быть надежным для современной веры в ее дискуссии с экономическими и общественными процессами.
Ключевые слова: Мартин Лютер, ранний капитализм, Бог или мамон, экономическая этика, радикальная Реформация

Zusammenfassung: Martin Luthers Schriften enthalten eine Fülle ökonomischer Analysen und Perspektiven zu den beginnenden kapitalistischen Veränderungen von Ökonomie und Gesellschaft seiner Zeit. Dabei waren diese wirtschaftlichen Überlegungen keine, die er zuerst dem Gebiet einer Ethik oder Wirtschaftsethik zuordnete, sondern es waren für ihn dezidiert theologische Analysen und Perspektiven, solche, die ihren Ausgangspunkt bei dem ersten Gebot nehmen: Es geht um Gott oder Abgott, um den Gott christlichen Glaubens oder um den Mammon der beginnenden „Wucher“-Ökonomie. Damit nimmt Luther die jesuanische, im Neuen Testament betonte Alternative von Gott oder Mammon auf.i  Der Verfasser stellt Luthers Überlegungen dar und fragt im Kontext des Projektes „Radicalizing Reformation“ weiterdenkend nach aktuellen kapitalismuskritischen Perspektiven sowie nach einem Gottesverständnis in Richtung und Linie von Luthers Theologie, das für gegenwärtigen Glauben in der Auseinandersetzung mit ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen tragfähig sein kann.
Schlüsselwörter: Martin Luther, Frühkapitalismus, Gott oder Mammon, Wirtschaftsethik, Radicalizing Reformation


Das war das Bild für Gott, das Luther am 15. März 1522 in einer Predigt formulierte: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reichet von der Erde bis an den Himmel.“ (WA 10 III, 55-58)

Dieses Bild ist mein erster Ausgangspunkt für die Entfaltung dessen, wie Luther von Gott redete und schrieb. Dabei hat Luther im Gegensatz zu den Schweitzer Reformatoren keine Dogmatik hinterlassen, an der man systematisch seine Gotteslehre ablesen könnte. Seine Schriften sind im besten Sinne des Wortes – wie die neutestamentlichen Texte auch – „theologische Kleinliteratur“, die „als ‚Material‘ zur Benutzung durch den jeweiligen Besitzer bestimmt“ ist (Dibelius, 1959, S.59). So könnte es sein, dass Luthers Neuentdeckung der biblischen Schriften nicht nur den Gehalt seiner Texte, sondern entscheidend auch die dazu gehörende Form mitbestimmt hat. Luthers Schriften sind eben „Gelegenheitsschriften“, herausgefordert durch konkrete ökonomische, gesellschaftliche, kirchliche und individuell-persönliche Erfahrungen. Luther war desinteressiert an folgenlosen theologischen Richtigkeiten und höchst interessiert an theologisch zu bedenkenden Erfahrungen, denn, so Luther: „Allein die Erfahrung macht einen Theologen“ (WATr I; 16,13).ii

Mein zweiter Ausgangspunkt ist im Titel gekennzeichnet durch die Beschreibung von Luthers Gegenwart als „(früh)kapitalistische Zivilisation“. Die seit dem späten 12. Jahrhundert aufkommende Geldwirtschaft, verbunden mit einer sich rasant entwickelnden Finanzökonomie, war nicht lediglich ein Teilbereich gesellschaftlichen und individuellen Lebens, sondern bestimmendes Moment der Zivilisation geworden – so wie der menschenverachtende und das Leben zerstörende Neoliberalismus und seine Krisen heute. Wie Luther im Kontext einer frühkapitalistischen Zivilisation lebte und arbeitete, so leben und arbeiten wir – und da bin ich ein unverbesserlicher, von Karl Marxiii und so unterschiedlichen Marxisten wie dem US-Amerikaner Richard Rorty (1998), dem Briten Michael Hardt oder dem Italiener Antonio Negri (2003) belehrter Optimist – in spätkapitalistischen Zeiten. Und wenn Luther bereits feststellte, dass „das Unwesen“ frühkapitalistischer Wirtschaftsweisen „so weit eingerissen ist und in allen Dingen in allen Landen überhandgenommen hat“ (Luther, 1967, S. 262), so beschreibt er damit lediglich den Beginn einer eben nicht nur ökonomischen, sondern zivilisatorischen Entwicklung, an deren Ende wir heute mit der nahezu totalen Ökonomisierung unseres Lebens stehen.iv

Ausgehend von diesen beiden Gesichtspunkten gliedern sich meine Überlegungen. Mir geht es dabei nicht um eine umfassende Darstellung der Gotteslehre Luthers. Diese müsste ihren Ausgangspunkt nehmen an Luthers Erfahrung, dass „der name Gottes das mannchfelttigste wortt ist. Man hat wohl tausenterlej Gott“ (WA 33, 460, 31-33), und dann müsste ich von dem gnädigen und dem zornigen, dem offenbaren und dem verborgenen Gott reden, Gottes aktive und passive Gerechtigkeit erläutern und Luthers weitgehenden Verzicht auf trinitätstheologische Überlegungen diskutieren, um schließlich der vielfältigen Bilderwelt von Luthers Gottesverständnis nachzudenken. Das alles möchte ich nicht tun. Mir geht es um das, was – mit Dietrich Ritschl – „bleibend wichtig“ und „jetzt dringlich“ ist!

„Ein Backofen voller Liebe“

Luther war nach dem Reichstag zu Worms 1521 zu seinem Schutz auf die Wartburg ‚entführt‘ worden. Im März 1522 reiste er von dort nach Wittenberg. Unruhen waren ausgebrochen, die er beruhigen wollte. Wie macht er das? Er predigt! Er lehrt. Es geht um Bildung, damit Menschen verstehen, was sie tun und dies ändern können. So hält er im März 1522 seine berühmt gewordenen Invokavit-Predigten. In der sechsten Predigt sprach Luther über das Abendmahl und jetzt in der 7. Predigt über die Frucht dieses Sakraments:

„Jetzt wollen wir nun auch von der Frucht dieses Sakraments reden, welches die Liebe ist, nämlich dass wir uns also gegen unsern Nächsten finden lassen, wie uns von Gott geschehen und widerfahren ist. Nun haben wir von Gott eitel Liebe und Wohltat empfangen, denn ist das nicht eine große unaussprechliche Liebe, dass er seinen eingeborenen Sohn vom Himmel heruntergeschickt hat und ins Fleisch geworfen, auf dass er uns errettet und erlöst von Sünde, Tod, Teufel und Hölle? Ist das nicht eine große unermessliche Liebe, dass derselbige Sohn dem Vater zum Wohlgefallen sein Leib und Blut unserthalben dahingegeben hat? Ist das nicht eine große überschwängliche Liebe, hat alle seine Güter über uns ausgeschüttet, welche niemand ermessen kann, kein Engel kann sie begreifen und ergründen, denn Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reicht von der Erde bis an den Himmel. Die Liebe, sag ich, ist eine Frucht dieses Sakraments. Die spür ich noch nicht unter euch allhier in Wittenberg, wiewohl euch viel gepredigt ist, in welcher ihr euch doch förderlich üben sollt.“ (WA 10 III, 55-58)

Die Liebe sieht Luther als Konsequenz unserer Erfahrung, von Gott geliebt und mit all dem beschenkt zu sein, was wir zum Leben brauchen. „Die (göttliche) Liebe besteht darin, dem geliebten Geschöpf so zu begegnen, dass es selbst zu einem liebenden Geschöpf wird“ (Härle, 2012, S. 249). Diese Liebe schenkt und diese Liebe fordert, sie ist Zuspruch im Sakrament und Anspruch an uns zu liebevoller Praxis. Luther fordert im Verlauf der Predigt Solidarität mit den Armen und warnt an deren Ende vor dem Zorn Gottes, den er an anderer Stelle als eine Gestalt seiner Barmherzigkeit zu beschreiben weiß. (Barth, 2009, S. 210) Den Zuspruch der Liebe hören wir in der Regel gerne, ihre anspruchsvollen Konsequenzen aber blenden wir ebenso gerne aus wie die Rede von Gottes Zorn.

Wenn ich mit Menschen in meiner Gemeinde oder mit Studierenden über Gott ins Gespräch komme, sprechen diese meist vom ‚lieben Gott‘. Vielleicht kennen Sie das auch: Ich gehe alleine im Wald einen Weg entlang. Da kommt mir ein Hund entgegen. Und von weitem ruft mir dessen Besitzer zu: „Der ist lieb, der tut nix!“ Genauso und diesen Vergleich hat Jürgen Ebach einst formuliert, kommt mir diese monotone und letztendlich lieblose Rede vom ‚lieben Gott‘ vor, der lieb ist und nix tut. Solche Rede vom lieben Gott verkennt „die Lebendigkeit seiner Beziehung zu den Menschen und zu seiner ganzen Schöpfung. Die Liebe selbst hat vielerlei Gestalten, und sie kann sich nach Luther durchaus in Zumutungen Gottes äußern. Der christliche Glaube ist keine ‚wellness‘-Religion“ (Barth, 2009, S. 229), wozu er in unseren deutschen Landen vielfach verkommen oder gemacht worden ist. Wilfried Härle geht so weit, dass er die Rede vom ‚lieben Gott‘ als eine „Art Beschwörungsformel“ ansieht; „es ist aber auch“, so Härle weiter, „eine Verniedlichungs- und Verharmlosungsformel, die mitzuhören und mit zu bedenken ist, wenn von Gottes Wesen als Liebe gesprochen wird. Die Behauptung, dass Liebe Widerstand leisten, Schmerz zufügen, Leid verursachen, zum Gericht werden kann, wirkt demgegenüber fremdartig, ja unglaubwürdig. Was im alltäglichen Sprachgebrauch als ‚Liebe‘ oder ‚lieben‘ bezeichnet wird, könnte man häufig mit ‚Willfährigkeit‘, ‚Freundlichkeit‘ oder ‚nett sein‘ wiedergeben. Dementsprechend wird dann von einem lieben oder liebenden Gott … erwartet, dass er unsere Wünsche erfüllt, uns vor Unangenehmem bewahrt und unsere Schwächen und Fehler großzügig verzeiht. Ein theologisches und kirchliches Reden von Gottes … Liebe muss mit solchen Missverständnissen rechnen und sollte versuchen, sich gegen sie abzugrenzen.“ (Härle, 2012, S. 248 f) Dabei gehe ich mit Dorothee Sölle davon aus, dass dieser störungsfreie ‚liebe Gott, der nix tut‘ ein Ergebnis des Zusammenspiels von Kapitalismus und Kirche ist, denn, so hat es Dorothee Sölle in einem Gespräch mit Oskar Negt einmal formuliert: „der Kapitalismus hat die Religion gründlicher zerstört als alles andere“ (Sölle, 2010, S. 279).

„Worauf du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott“

1529 erscheinen der kleine Katechismus (Luther, 1966, S. 138-159), mit dessen Hilfe vor allem die Hausväter ihre Hausgemeinschaften unterrichten sollen, und der große Katechismus Luthers (Luther, 1961, S. 11-150), der vor allem zur Belehrung der Geistlichen gedacht war. „Katechismus“, so Martin Luther, „heißt Unterricht. Ein jeder Christ soll notwendig den Katechismus kennen, wer ihn nicht kann, soll nicht unter die Zahl der Christen gerechnet werden.“ (WA 30 I, 2, 3-7) Luther begründet diese Ansicht damit, dass „der Katechismus der ganzen heiligen Schrift kurzer Auszug und Abschrift ist“ (WA 30 I, 128, 29-30), und unterrichtet uns davon, wie er selbst mit dem Katechismus lernt:

„Ich bin ein Theologe und habe in mancherlei Gefahren die Heilige Schrift doch so einigermaßen gelesen und verfüge über einige Erfahrung. Doch fühle ich mich solcher Gabe wegen nicht so erhaben, dass ich nicht täglich wie die Kinder den Katechismus, d.h. die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vater unser bei mir betete und mit ganzem Herzen betrachtete, dass ich nicht nur die Worte herunterhaspele, sondern dass ich auch darüber nachdenke, was die einzelnen Worte sagen. … Denn das Wort ist uns von Gott dazu gegeben, dass wir es uns – wie 5. Mose 6,7 sagt – einschärfen sollen und uns darin üben. Ohne diese tägliche Übung setzen unsere Herzen gleichsam Rost an, dass wir uns selbst damit vernichten.“ (WA 40 III, 192, 16-25)

Vielleicht haben unsere Herzen im Blick auf Luthers Auslegung des ersten Gebotes ja schon Rost angesetzt, „dass wir uns selbst – ganz anders als Luther ahnen konnte – damit vernichten“. Ich lade zum Entrosten ein!

In Luthers Katechismen lautet das erste Gebot: „Du sollst nicht andere Götter haben.“ „Ausführlich“ will Luther das erste Gebot (Luther, 1961, S. 20-28) erläutern, „weil es darauf am allermeisten ankommt, darum dass, wo das Herz wohl mit Gott daran ist und dies Gebot gehalten wird, folgen die anderen alle hernach“. (Korsch, 2016, S. 123)

Das Entscheidende in den zehn Geboten – so Luther – ist die Antwort auf die Frage: Wer ist dein Gott? Luther antwortet:

„Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also dass einen Gott haben nichts anderes ist, denn ihm von Herzen glauben und trauen; wie ich oft gesagt habe, dass alleine das Trauen und Glauben des Herzens beide macht, Gott und Abgott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht. … Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Worauf du nun (sage ich) dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“ Und damit dies nun auch wirklich verstanden wird, fährt Luther fort: „Das muss ich ein wenig deutlich erklären, dass mans verstehe und merke an gemeingültigen Exempeln des Gegenteils.“ (Luther, 1961, S. 20)

Und es ist nicht das Gegenüber zu oder die Angst vor Gottheiten oder Glaubensweisen anderer Religionen, etwa des Islam, die Luther hier bewegte, und vor denen er die Menschen warnen wollte, sondern es ist zuvörderst und als erstes der mit Macht beginnende Finanzkapitalismus:

„Es ist mancher, der meinet, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat, verlässt und brüstet sich drauf so steif und sicher, dass er auf niemand etwas gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißet Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herz setzet, welches auch der allergewöhnlichste Abgott ist auf Erden. Wer Geld und Gut hat, der weiß sich sicher, ist fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies; und wiederum, wer keins hat, der verzweifelt und verzagt, als wisse er von keinem Gott. Denn man wird ihrer gar wenig finden, die guten Mutes seien, nicht trauern noch klagen, wenn sie den Mammon nicht haben; es klebt und hängt der Natur an bis ins Grab.“ (Luther, 1961, S. 20 f)

Luther nennt in der Folge seiner Auslegung auch weitere Abgötter, doch immer wenn er auf die Alternative Gott oder Abgott zu sprechen kommt, stehen „Geld und Gut“ an erster Stelle. Biblisch ist dies eine, wenn nicht die zentrale Alternative: Gott oder Mammon. Wir hätten es also wissen können – als evangelische Christinnen und Christen, Kirchen und Gemeinden, von Luther an die Bibel verwiesen und im Katechismus belehrt … Doch wir stehen in einer Tradition der Luther-Wahrnehmung in der Theologie, die argumentiert, wie beispielsweise der Kollege Volker Leppin in Tübingen. Leppin stellt zunächst mit einem Lutherzitat fest, dass ‚nach Luther Geld bzw. Mammon der aller gemeynest Abgott auf Erden ist‘ und fährt begründungslos im folgenden Satz fort: „Die eigentliche theologische Tiefe aber erreichen Luthers Aussagen, wenn er Heiligendienst, Mönchtum, Messgottesdienst oder ganz allgemein Werkgerechtigkeit als Abgötterei bezeichnet“(Leppin, 2015, S. 38). So kann man nur reden, wenn man dabei nicht bedenkt oder aber sogar will, dass Luther ökonomisch und gesellschaftlich folgenlos bleibt.

Dabei, und das erscheint mir entscheidend: Für Luther ist die Frage des Geldes und des Wirtschafts- und Finanzkapitalismus eben nicht allein eine Frage der zweiten Tafel des Dekalogs, also vor allem des Diebstahlverbotes. Hier in der Auslegung des siebten Gebotes heißt es bei Luther:

„Denn es soll (wie jetzt gesagt) nicht allein gestohlen heißen, dass man Kasten und Taschen ausräumet, sondern das soll überall gelten, wo man hantieret, Geld um Ware oder Arbeit nimmt und gibt. … So geht es auch mit voller Macht und Gewalt weiter auf dem Markt und in den allgemeinen Händeln, da einer den anderen öffentlich mit falscher Ware, Maß, Gewicht, Münze betrügt.“ (Luther, 1961, S. 59).

Und das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ geht für Luther weit hinein in private Eigentumsverhältnisse, weil er noch wusste, dass das Wörtchen „Privat“ von lateinisch „privare“ kommt und auf Deutsch „rauben“ heißt und deshalb kritisiert Luther – da ist er ganz nah bei Franz von Assisi – Privateigentum als der Allgemeinheit geraubtes Eigentum. (Gollwitzer, 1975, S. 92 ff) Doch es bleibt nicht bei dieser ethischen Ablehnung der gerade aufkommenden und sich rasant ausbreitenden neuen Wirtschaftsform des Wirtschafts- und Finanzkapitalismus (Luther, 1961, S. 58 ff), sondern es geht Luther um ein prominent theologisches Thema: Gott oder Mammon ist bei Luther wie im Neuen Testament eine Frage der Beziehung zu Gott und die Alternative biblischer Gott oder Mammon gehört deshalb zuvorderst in die Gotteslehre!

Luther kämpfte an dieser Stelle gegen zwei Fronten: zum einen gegen den seit dem 12. Jahrhundert mit den aufkommenden Stadtgesellschaften sich herausbildenden Frühkapitalismus nationaler und internationaler Handelsgesellschaften und Geldhäuser, zum andern gegen „die Verflechtung von Kirche und frühkapitalistischer Geldwirtschaft“ (Hamm, 2007, S. 239).

Besiegelt wurde die Liebe der römischen Kirche zum beginnenden Kapitalismus ausgesprochen früh; schon im Jahre 1197 „hatte Papst Innozenz III. einen steinreichen Kaufmann aus Cremona mit dem Beinamen oder, besser gesagt, mit dem Übernamen Homobonus (guter Mann) zur Ehre der Altäre erhoben. Nun ist es geschafft: Das Geld wird nicht länger verflucht, und der Kapitalismus kann mit dem Segen der Kirche seinen triumphalen Aufstieg beginnen.“ (Clévenot, 1993, S. 17) Es galt dann nicht mehr „Lieber Jesus, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm“, sondern man machte sich einen neuen Reim aufs Geld: ‚Lieber Jesus, mach mich reich, dass ich komm ins Himmelreich‘.

Das entlarvte Luther als Götzendienst. Seine kritische Perspektive auf die sich neu etablierende Ökonomie findet sich ja nicht nur im Katechismus, sondern beispielsweise auch an einer zentralen Stelle in seiner Freiheitsschrift aus dem Jahre 1520:

„Siehe, so müssen Gottes Güter aus einem in den andern fließen und allgemein werden, so dass ein jeglicher sich seines Nächsten so annehme, als wäre ers selbst. Aus Christus fließen sie in uns, der sich unser in seinem Leben angenommen hat, als wäre er das gewesen, was wir sind. Aus uns sollen sie in die fließen, die ihrer bedürfen … aus alledem folgt der Beschluss: ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe.“ (Luther, 1981, S. 273)

Und Daniel Beros kommentiert: „Wer also durch den Glauben das barmherzige Handeln Gottes in Jesus Christus erfahren hat, der weiß sich befreit von der ständige Notwendigkeit, sich ängstlich und gierig seiner eigenen Existenz zu versichern. … Die Werke müssen nicht etwas vor Gott aufbauen, sondern können sich ganz an der Not der Welt orientieren.“ (Beros, 2015, S. 85; vgl. WA 12, 11-13) Die „Not der Welt“ und Alternativen dazu untersucht Luther in seinen Schriften zum „Wucher“ 1520, 1524, 1540 u.ö., um nur die Jahreszahlen zu den Haupttexten Luthers zu nennen, die sich mit ökonomischen Themen befassen, die freilich durchgängig in seinem Werk eine bedeutsame Rolle spielen; den Begriff „Wucher“ wählt Luther dabei als zusammenfassendes Wort für den Beginn kapitalistischer Waren- und Geldwirtschaft.

Zwei Beispiele nur: 1520 in seinem „Sermon von Kaufshandlung und Wucher“ (Luther, 1967, S. 281) kritisiert Luther die skrupulösen Machenschaften der großen Handelsgesellschaften, sich sichere Gewinne anzueignen: „dass sie die Preise steigern oder erniedrigen nach ihrem Gefallen, und drücken und verderben alle kleinen Kaufleute, gleichwie der Hecht die kleinen Fische im Wasser, gerade als wären sie die Herren über Gottes Kreaturen und frei von allen Gesetzen des Glaubens und der Liebe“ (WA 51, 395 f). Und Luthers kapitalismuskritische Argumentation ist wieder nicht eine ethische, sondern eine dezidiert theo-logische: die großen Handelsgesellschaften benehmen sich als wären sie die Herren über Gottes Kreaturen. Und ein zweites Beispiel: Im Jahr 1540 richtet „Luther von Neuem eine scharfe öffentliche Ermahnung an die Pfarrherrn, in der er die spekulativen Machenschaften einer Gruppe von Agrarerzeugern und Vorratshaltern in seiner Region kritisierte, die das Getreide anhäuften und darauf spekulierten, dass sich sein Preis erhöhte. Mit dieser Machenschaft riefen sie künstlich Überteuerung und Unterversorgung hervor und schädigten damit die übrige Bevölkerung.“ (Beros, 2015, S. 89) Merken Sie, wie aktuell diese Schiften sind: Sie kennen das, was Luther hier für seine Region beschreibt von den großen Börsen in Frankfurt, London oder sonst irgendwo auf der Welt und ihren Termingeschäften mit Getreide und anderen Lebens(!)mitteln. Und heute sind es an vorderster Stelle nicht evangelische Bischöfe, die dagegen Protest anmelden, sondern Papst Franziskus – ein Anzeichen erneuerter ökumenischer Lernmöglichkeiten? Doch weiter zu Luther: „Die Aufgabe, zu der Luther die Prediger in dieser Situation herausforderte, ist – vom Wort Gottes und vom Evangelium her – den wahren Charakter der Wucherpraktiken aufzudecken und zu entlarven. Die Prediger sollten die Dinge beim Namen nennen und den Missbrauch und die Ungerechtigkeit anprangern.“ (Beros, 2015, S. 89) Doch da Luther wusste, dass Christen „seltene Vögel“ auf der Erde sind, ermahnte er auch „die weltliche Obrigkeit, ihre Verantwortung wahrzunehmen, zum Wohl der Bevölkerung einzugreifen, Maßnahmen gegen die Spekulanten einzuleiten, um die normale Versorgung mit Lebensmitteln zu vernünftigen Preisen sicherzustellen.“ (Beros, 2015, S. 89) Und wieder folgt Luthers theologische Begründung – seine theologische Nachhilfe für die Pfarrer – auf dem Fuße:

„Also ist auch kein größerer Menschenfeind auf Erden (nach dem Teufel) denn ein Geizhals und ein Wucherer, denn er will über alle Menschen Gott sein. … Christus, unser Herr, hat angeordnet, dass niemand Gott für den andern sein soll, sondern dass jeder Mensch Diener des andern sein soll gemäß der Liebe.“ (WA 51, 395 f)

Soweit ein paar wenige Hinweise zu Luthers Kapitalismuskritik – immer formuliert unter der theologischen Perspektive: Gott oder Abgott als konkrete gesellschaftliche und ökonomische Frage.

Der andere Gegner Luthers war jene Kirche, die sich mit dieser frühkapitalistischen Wirtschaftsform liiert hatte:

„Man kann sich diese Art kaufmännischer Religiosität am Beispiel des unglaublich reichen Nürnberger Geschäftsmanns und Kreditgebers Konrad Groß veranschaulichen. Er stiftete 1339 das berühmte Heilig-Geist-Spital in Nürnberg als Heimstatt für Hilfsbedürftige und verstand diese immense Geldanlage als Geschäft mit der Ewigkeit. In der Stiftungsurkunde äußert er den Wunsch, ‚zeitliche Güter gegen himmlische einzutauschen‘. Es sei der Ratschluss Gottes, ‚dass die einen im Lauf dieses Lebens Überfluss haben, während die anderen an vergänglichen Gütern Mangel leiden, damit die Reichen durch Unterstützung der Unglücklichen und Darbenden Christi Gebot (der Nächstenliebe) erfüllen‘. ‚Wie heilsam‘, heißt es in der Urkunde weiter, ‚ist doch die Unterstützung der Armen, die, während sie bemüht ist, den Nächsten in ihrem augenblicklichen Unglück zu helfen, sich die Befreiung vom ewigen Unglück verdient.‘ Konrad Groß bleibt seiner kommerziellen Lebensform und Denkweise treu, indem er sein Geld in den Gewinn der himmlischen Güter investiert. Dies ist möglich, weil die Kleriker, die solche religiösen Stiftungsurkunden formulieren und theologisch-argumentativ unterfüttern, ihre Theologie und ihr kirchenrechtliches Denken im Sinne eines kapital- und gewinnorientierten Tauschgeschäftes ausgestaltet haben.“ (Hamm, 2007, 243 f)

Auch damit wollte Luther, belehrt durch Gottes Wort, brechen. Es geht also bei Luthers Ablehnung des Ablasshandels nicht lediglich um eine soteriologische Frage oder eine ekklesiologische Debatte im Kampf gegen einen kirchlichen Missbrauch, sondern um die konsequente theologische Ablehnung einer ganzen Wirtschaftsform, die das kirchliche Leben schon weitestgehend durchdrungen und zerstört hatte! Die Kritik an dieser Entwicklung sah Luther als entscheidend dafür an, zum einen Gottes Gottheit, zum andern aber auch des Menschen Menschlichkeit zu verstehen und zu wahren. Am 16. Februar 1546, einen Tag vor seinem Tod schrieb Luther – und dies ist sein letztes erhaltenes schriftliches Zeugnis: „Wir sind Bettler, das ist wahr“ (WA 48, 421) – dankbare Bettler und eben keine gierigen Monopolia.

Die Reformation radikalisieren: „Ruft eine Befreiung aus im Land“ (Lev 25, 10) – Zu einer Leerstelle in Luthers Auslegung zum ersten Gebot

Hinter dem Titel „Die Reformation radikalisieren“ steht ein internationales Forschungs- und Aktionsprojekt im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017, das seit 2012 gemeinsam arbeitet. (Radicalization Reformation, 2017) Ausgangspunkt ist eine Bemerkung aus Bonhoeffers Dissertation „Sanctorum Communio“. Bonhoeffer schreibt: „Ernsthafte Besinnung aufs Evangelium und scharfe Augen auf die Gegenwart sind die Kräfte, aus denen die lebendige Kirche neu geboren wird. Die kommende Kirche wird nicht ‚bürgerlich‘ sein.“ (Bonhoeffer, 2015, 292) Ernsthafte Besinnung aufs Evangelium und scharfe Augen auf die Gegenwart – das können wir nicht allein bei Bonhoeffer lernen, sondern eben auch von Luther lernen.

Mit dieser doppelten Perspektive arbeitet auch diese Gruppe: sie lässt sich provozieren von der Bibel und von der umfassenden Krise des Lebens heute. Im August 2014 veröffentlichte dieses Forschungs- und Aktionsprojekt 94 Thesen unter dem Titel „Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise“. Die Thesen schließen mit folgenden Sätzen:

„‚Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise‘ ist für Kirchen und Theologie keine beliebige Option, sondern notwendig. Luther selbst machte die Schrift in ihrem historischen Wortsinn zum Kriterium aller Tradition. Die kontextuelle Auslegung der Bibel hat diesen Sinn kritisch-prophetisch geschärft. Und Luther übte systemische Kritik schon am Beginn der kapitalistischen Moderne – Wie sollten wir am Ende dieser immer mörderischeren und selbstmörderischen Menschheitsphase und ihrer Krise nicht neu auf unsere Glaubensquellen hören und mit anderen gemeinsam ‚dem Rad in die Speichen fallen‘? Lasst uns gemeinsam mit anderen auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens gehen.“ (Radicalization Reformation)

Im Sinne dieser 94 Thesen möchte ich auf eine Leerstelle in Luthers Auslegung des ersten Gebotes hinweisen, die zum einen für Luthers Theologie nicht zufällig und zum andern aber auch innerhalb der Theologie Luthers nicht zwangsläufig notwendig ist. Luther hat gegenüber der biblischen Formulierung des ersten Gebotes einen entscheidenden Passus in seinen Katechismen gestrichen. In Exodus 20,1 heißt es: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Bei Luther heißt es: „Du sollst nicht andere Götter haben.“ D.h.: Die für das Verständnis des gesamten Dekalogs entscheidende Selbstvorstellung Gottes hat Luther im Gegensatz zum Heidelberger Katechismus der Schweizer Reformatoren gestrichen. In biblischer Tradition ist der Dekalog Gottes Weisung für die Befreiten, für diejenigen, die Gott aus dem Sklavenhaus herausgeführt hat, und die sich nun nicht wieder von anderen Imperien oder Göttern versklaven lassen sollen. Und es ist entscheidend, dass der Dekalog Gott selbst als Befreier vorstellt. Nur mit dieser biblischen Klarstellung wird auch der befreiende und gerade nicht knechtende Charakter des Dekaloges deutlich. Er beschreibt eben nicht, was Menschen nicht dürfen, sondern eröffnet befreites Leben. Auch deshalb wird in Leviticus 25, 10 das Volk wieder erinnert: „Ruft eine Befreiung aus im Land!“ Lasst euch nicht unterdrücken, sondern sorgt als Basis gesellschaftlichen Zusammenlebens für ökonomische Gerechtigkeit! Im Neuen Testament ist es der Zusammenhang von Wahrheit und Liebe, der frei macht (Joh 8, 31 ff): Geborgen in Gottes Wahrheit und Liebe sind wir befreit zu radikaler Kritik an Gesellschaft und Ökonomie, um ‚alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist‘, wie es „sehr evangeliumsgemäß“ der junge Marx formuliert hat (Gollwitzer, 1974, S. 119). Wir können die Wahrheit tun!

In der Perspektive von Luthers Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“ (Luther, 1967, S. 9-51) aus dem Jahre 1523 hätte Luther durchaus diese Befreiungsperspektive des Dekalogs aufnehmen können. Der Kernsatz von Luthers in dieser Schrift formulierten, später so genannten Zwei-Reiche-Lehre lautet:

„So geht beides fein miteinander zusammen, dass du zugleich dem Reich Gottes und dem Reich der Welt äußerlich und innerlich Genüge leistest, dass du zugleich Übel und Unrecht leidest und doch Übel und Unrecht strafst, zugleich dem Übel nicht widerstehst und doch widerstehst. Denn mit dem einen siehst du auf dich und das Deine, mit dem andern auf den Nächsten und das Seine. Wo es dich und das Deine angeht, da verhältst du dich nach dem Evangelium und leidest als ein rechter Christ für deine eigene Person Unrecht; wo es den anderen und das Seine angeht, da verhältst du dich nach der Liebe und leidest kein Unrecht für deinen Nächsten; und das verbietet das Evangelium nicht, ja vielmehr gebietet es das an anderer Stelle.“ (Luther, 1967, S. 20)

Dieser kurze Text macht deutlich:

„Wo es um das Recht des Nächsten geht, verlangt die Liebe, dass wir uns nicht die Hände sauber halten durch die Abstinenz von Gewalt, sondern die Gewaltmittel, mit denen in der Welt die Stärkeren die Schwächeren vergewaltigen, gegen die Stärkeren zum Schutz der Schwächeren einsetzen. Das gilt sowohl für die Beteiligung am gesellschaftlichen Rechtswesen wie – in einer von Luther nicht gesehenen Konsequenz – für den Widerstand gegen unrecht handelnde Obrigkeit.

Luther hat diese logische Konsequenz nicht gezogen aus einem jenem Kernsatz fremden Motiv, aus seiner Obrigkeitslehre. Während jener Kernsatz, für sich betrachtet, das Widerstandsrecht gegen unrecht handelnde Obrigkeit zur Widerstandspflicht der Liebe macht, blockiert Luther die Liebe durch eine Tabuisierung der Obrigkeit, gegen die er nur passiven Widerstand und Kritik nur durch die berufenen Amtsträger erlaubt. Luthers Ordnungsangst fällt der Liebe in den Arm.“ (Gollwitzer, 1988, S. 46)

Für unsere Frage nach dem ersten Gebot bedeutet dies, dass Luther durchaus die Befreiungsperspektive dieses Gebotes hätte ernstnehmen und formulieren können – faktisch hat er es in seiner Auslegung getan, wenn er die Verehrung des Geldes und damit der vorherrschenden ökonomischen Ordnung des beginnenden Finanzkapitalismus so deutlich abgelehnt hat. Hier hat er offensichtlich so große Gefahren für den Menschen, für dessen Glauben und für Gottes Gottheit gesehen, dass er größer als seine Ordnungsangst seine Liebe zu Gott und den Menschen angesehen hat.

Ich bin am Ende meines Gedankenganges zu Luthers Rede von Gott angekommen und wieder bei dem Stichwort Liebe angelangt, das für Luther nicht lediglich in der zitierten Predigt, sondern ebenso in der Auslegung des Ersten Gebotes sowie in den anderen herangezogenen Schriften ein zentraler Begriff war. Ich möchte abschließend noch auf einen Punkt unseres Ausgangszitates hinweisen: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reichet von der Erde bis an den Himmel.“

Ich finde es bemerkenswert, dass Luther nicht formuliert, Gottes Liebe reiche vom Himmel bis auf die Erde, sondern von der Erde bis an den Himmel. Und dies entspricht ganz seiner Auslegung des Ersten Gebotes; Luther formuliert: „dass alleine das Trauen und Glauben des Herzens beide macht, Gott und Abgott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht. … Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Worauf du nun (sage ich) dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“ (Luther, 1961, S. 20) Nicht lediglich uns Menschen sieht Luther angewiesen auf Gott, sondern Gott auch angewiesen auf uns: das Trauen und das Glauben des Herzens macht Gott und deshalb reicht der Backofen voller Liebe von der Erde bis an den Himmel. Ein spannendes Thema für eine Vorlesung zur Gotteslehre und (!) zur Christologie Luthers, denn „nachdem Gott selbst Mensch geworden ist, ist mit Karl Barth und (!) Albert Schweitzer der Mensch – „inmitten allen Lebens, das leben will“ (Schweitzer, o.J., S. 375) – das Maß aller Dinge“ (Barth, 1970, S. 68). Mach‘s wie Gott, werde Mensch!

Literatur

  • Barth, Hans Martin (2009): Die Theologie Martin Luthers. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
  • Barth, Karl (1970): Christengemeinde und Bürgergemeinde. Theologische Studien 104. Zürich: EVZ-Verlag, S. 49-82.
  • Benjamin, Walter (1991): Kapitalismus als Religion. Fragment 74. In: Ders.: Gesammelte Schriften VI, hrsg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser. Frankfurt: Suhrkamp, S. 100-103.
  • Beros, Daniel (2015): Die Reformation und „Der Geist des Kapitalismus“. In: Duchrow, U. & Hoffmann, M. (Hrsg.): Politik und Ökonomie der Befreiung. Die Reformation radikalisieren. Bd. 3. Münster: LIT-Verlag, S. 76-106.
  • Bonhoeffer, Dietrich (2015): Sanctorum Communio. In: DBW 1. Hrsg. v. Joachim von Soosten. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
  • Clévenot, Michel (1993): „Lieber Jesus, mach mich reich!“ Geschichte des Christentums im XIV. und XV. Jahrhundert. Luzern: edition exodus.
  • Dibelius, Martin (1959): Die Formgeschichte des Evangeliums. München: Kaiser Verlag.
  • Gollwitzer, Helmut (1974): Die kapitalistische Revolution. München: Kaiser Verlag.
  • Gollwitzer, Helmut (1988): Bergpredigt und Zwei-Reiche-Lehre. In: Ders.: …dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Aufsätze zur politischen Ethik. Band 1. München: Kaiser Verlag, S. 40-68.
  • Gollwitzer, Helmut (1975): Kirche ist Kommune. Predigt zu Apg 2, 44-47. In: Ders., Vortrupp des Lebens. München: Kaiser Verlag, S. 92-100.
  • Hamm, B. (2007): Den Himmel kaufen. Heilskommerzielle Perspektiven des 14.-16. Jahrhunderts. In: Ebner, M. et al. (Hrsg.): Jahrbuch für biblische Theologie. Band 21. Gott und Geld. Neukirchen-Vluyn: Neukirchner Verlag, S. 239-275.
  • Härle, Wolfgang (2012): Dogmatik. Berlin: DE GRUYTER.
  • Hardt, Michael & Negri, Antonio (2003): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt: Campus Verlag.
  • Kaufmann, Thomas (2006): Martin Luther. München: C.H.BECK.
  • Korsch, Dietrich (2016): Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Herausgegeben und kommentiert von Dietrich Korsch. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.
  • Leppin, Volker (2015): Art. Abgott. In: Leppin, V. & Schneider-Ludorff, G. (Hrsg.): Das Luther-Lexikon. Regensburg: Bückle&Böhm, S. 38 f.
  • Luther, Martin (1981): Von der Freiheit eines Christenmenschen. In: Aland, K. (Hrsg.): Luther deutsch. Band 2: Der Reformator. Göttingen: Klotz im Verlag Vandenhoeck&Ruprecht, S. 251-274.
  • Luther, Martin (2003): Vorwort zu: Leisniger Kastenordnung. In: WA 12, 11-30. Weimar: Verlag Hermann Böhlhaus NF.
  • Luther, Martin (1940): An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen, Vermahnung. In: WA 51, 325-424. Weimar: Verlag Hermann Böhlhaus NF.
  • Luther, Martin (1967): Von Kaufshandlung und Wucher. In: Aland, K. (Hrsg.): Luther Deutsch. Band 7: Der Christ in der Welt. Stuttgart/Göttingen: Klotz im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, S. 262-283.
  • Luther, Martin (1961): Der große Katechismus. In: Aland, K. (Hrsg.): Luther Deutsch. Band 3: Der neue Glaube. Göttingen: Klotz im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, S. 11- 150.
  • Luther, Martin (1966): Der kleine Katechismus. In: Aland, K. (Hrsg.): Luther Deutsch. Band 6: Kirche und Gemeinde. Göttingen: Klotz im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, S. 138-159.
  • Marx, Karl (o.J.): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf 1857-1858, Anhang 1850-1859). Frankfurt-Wien: Europäische Verlagsanstalt, Europa Verlag.
  • Orth, Gottfried (1995): Zur Solidarität befreit. Helmut Gollwitzer. Mainz: Grünewald Verlag.
  • Radicalizing Reformation (2016): URL: http://radicalizing-reformation.com/index.php/de/
  • Rieth, R. (2015): Art. Wirtschaft. In: Leppin, V. & Schneider-Ludorff, G. (Hrsg.): Das Luther-Lexikon. Regensburg: Bückle & Böhm, S. 764-768.
  • Rorty, Richard (1998): Das kommunistische Manifest. 150 Jahre danach. Gescheiterte Prophezeiungen, glorreiche Hoffnungen. Frankfurt: Suhrkamp.
  • Schweitzer, Albert (o.J.): Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Band 2. Zürich: ex libris.
  • Sölle, Dorothee (2010): „Der Kapitalismus hat die Religion gründlicher zerstört als alles andere“. Gespräch mit Oskar Negt über Karl Marx, die Religionskritik und die Sehnsucht im Sozialismus und Christentum. In: D. Sölle, Gesammelte Werke. Band 11: Löse die Fesseln des Unrechts. Freiburg: Herder Verlag, S. 277-286.

Über den Autor

Prof. Dr. phil. Dr. habil. theol. Gottfried Orth: Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der TU Braunschweig (Deutschland); Mitglied im Team des ORCA-Instituts für Konfliktmanagement und Training. Kontakt: g.orth@tu-bs.de

Endnoten

i Der vorliegende Beitrag beruht auf einem Vortrag des Verfassers in der Ringvorlesung „500 Jahre Reformation“ an der TU Braunschweig am 15. 11. 2016. Wenn nicht anders angegeben, wird Luther nach der Weimarer Ausgabe (WA) seiner Werke zitiert.

ii Dazu u.a.: Kaufmann, T. (2006): Martin Luther. München: C.H. Beck Verlag, S. 59 u. ö.: „Dass Luther Theologie als praktische, erfahrungsbezogene Schriftauslegung, als Selbstauslegung des Menschen im Horizont des Wortes Gottes verstand, macht den lebendigen und zugleich den fragmentarischen Charakter seines Werkes aus.“ (S. 63)

iii Der Hinweis auf Karl Marx an dieser Stelle ist kein Zufall, denn Marx sah sich von seiner Professionalität her in der Tradition Luthers, wenn er diesen als den „ältesten deutschen Nationalökonom“ bezeichnete (Marx, K. [o.J.]: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [Rohentwurf 1857-1858, Anhang 1850-1859]. Wien. S. 891 f.) Hier zitiert Marx ausführlich aus Luthers Schrift „Von Kaufshandel und Wucher“. Ebenso im ersten und dritten Band von Karl Marx‘ „Das Kapital“ (Berlin/DDR, 1969) finden sich eine Fülle von Zitaten aus Luthers dezidiert ökonomischen Schriften.

iv Für einen ersten Blick auf Luthers Ökonomiekritik siehe den Artikel von R. Rieth (Wirtschaft), in: Leppin, V. & Schneider-Ludorff, G. (Hrsg.) (2015): Das Luther-Lexikon. Regensburg: Bückle & Böhm, S. 764-768. Zur Bedeutung von Luthers Schriften zur Wirtschaft hält K. Aland fest: „Sein ganzes Leben hat Luther an den wirtschaftlichen Fragen seiner Zeit lebhaft Anteil genommen und immer wieder seine Ansichten dazu mit Nachdruck zur Geltung gebracht. … Seine Grundhaltung, die sollte für uns Richtschnur ‚Gesetz‘ (in des Wortes richtiger Bedeutung) sein.“ (Aland, K.: Luther Deutsch. Band 7: Der Christ in der Welt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechtt. S. 406 und 408).

Category: