Geleitwort zur Konferenz „Vielfalt und Demokratie – Identitätssuche in unübersichtlichen Zeiten“

By Rita Süßmuth | December 22, 2016

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Rita Süßmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestages a.D.

Meine Damen und Herren,

diese Konferenz zum Thema „Vielfalt und Demokratie – Identitätssuche in unübersichtlichen Zeiten“ hat Vertreter der Vergleichenden Erziehungswissenschaft und anderer humanwissenschaftlicher Disziplinen aus 10 Ländern zusammengeführt.

Mit meiner aktiven Zeit und Arbeit im Deutschen Bundestag verbinde ich wertvolle Erfahrungen und Begegnungen mit beeindruckenden Menschen, große Herausforderungen und Chancen, viele Krisen, Niederlagen und Erfolge. Ich denke zurück an den Mauerfall mit der Öffnung der Grenze und den deutsch-deutschen Begegnungen; es war und bleibt das einschneidendste Ereignis in meinem politischen Leben. Das Ende des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs, vor allem die Globalisierung erzeugten jedoch auch Unsicherheit, Ängste und Abwehr. Demokratische Institutionen sollen Menschen absichern und gleichzeitig Freiheit geben. Umso wichtiger ist es für Politiker, die Bedeutung dieser Prozesse klarer zu vermitteln. Eine Kern-Maxime heutigen parlamentarischen Denkens und Handelns muss die Rückgewinnung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger sein. Zusätzlich muss die Teilhabe der Bürger an der politischen Entscheidungsfindung stärker praktiziert werden, um Apathie, Enttäuschung und Verdrossenheit entgegenzuwirken. Gelebte Demokratie macht Konsens und Dissens erfahrbar, überzeugt durch Mut zur Wahrheit und Vertrauen in die verantwortliche Mitgestaltung von Seiten der Bürger.

Wir haben lange vernachlässigte Probleme zu lösen, darunter den demographischen Wandel, soziale und ökonomische Herausforderungen und aktuell die digitale Information und Kommunikation. Dabei geht es darum, die Probleme nicht nur von der Makroebene, sondern von den Menschen her zu betrachten, von dem, was sie brauchen, was sie sich selbst zutrauen und abverlangen. Gründlicher nachdenken müssen wir darüber, was wir den Menschen zutrauen, auch zumuten können, aber auch, was wir nicht dulden und hinnehmen wollen. Wir glaubten, internationale Krisen, eine Rückkehr von Nationalismus, Rassismus, Gewalt und Krieg überwunden zu haben. Millionen von Menschen sind auf der Flucht vor Gewalt, Religionsmissbrauch, Hunger und Tod. Wir sind nicht entscheidend weitergekommen bei der gewaltfreien Regelung von Konflikten. Das ist nicht ermutigend, sondern ernüchternd. Deutschland befindet sich auf dem Weg, Lösungen für die genannten Probleme zu finden – das ist ein demokratischer Prozess, der noch viel Zeit für Denken und Handeln benötigen wird.

Globalisierung versprach, das Grenzenlose im Leben eines jeden einzelnen Menschen möglich zu machen. Doch es gibt Grenzen. Das zeigen uns derzeit die Machenschaften des IS-Staates. Wir brauchen neue Wegweiser und Ermutigungen für demokratisches Engagement, viel Fachverstand und Sachlichkeit, aber auch Emotionalität und Leidenschaft.

Ich war immer politisch interessiert und engagiert, hatte aber nie geplant, aktiv in die Politik einzusteigen, denn ich war Wissenschaftlerin. Die Politik schien mir, so wie ich sie in meiner Arbeit als Wissenschaftlerin wahrnehmen konnte, mit der Freiheit und Unabhängigkeit des Geistes schwer vereinbar zu sein, und ich habe lange gebraucht, um mich wissenschaftlich und politisch nicht vereinnahmen zu lassen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fühlen sich vielleicht manchmal als die besser Erkennenden, da ihre Forschungsergebnisse der Überprüfung unterliegen. Die Freiheit der Wissenschaft gab mir die Möglichkeit, unbeeinflusst von Interessen Dritter gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu analysieren und meine Arbeitsergebnisse und die daraus resultierenden Konsequenzen nicht einseitig auszurichten.

Identitätssuche ist zunächst etwas ganz Persönliches, fordert uns existenziell, hält ein Leben lang an. Es ist die Frage, wer bin ich im Unterschied zum anderen. Wie finde ich bei der gegebenen Vielfalt mich selbst. Was unterscheidet mich vom den anderen und was verbindet mich mit ihm oder ihr. Dazu gehört auch in der biografischen Rückschau auch die Reflexion wer war ich damals, und wer bin ich heute, wie erklären sich die Veränderungen. Wer und was hat mich geprägt?

Identitätssuche betrifft nicht nur den einzelnen, sondern auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Geschlechtern, Älteren und Jüngeren, bis hin zu kollektiven Maßnahmen mit ihren Klischees, den Vorurteilen und der Vielfalt der Eigenarten. Wichtig erscheint mir, dass Menschen Gelegenheit haben und ihnen ermöglicht wird, sich mit den Fragen der Identität auseinanderzusetzen, sich selbst in der Vielfalt der Möglichkeiten zu finden und das auch leben zu können.

Bei aller Wertgebundenheit war mir immer wichtig, offen zu sein für alternatives Denken, für die Überprüfung eigener Überzeugungen und Erkenntnisse. Das war nicht immer einfach. Das Leben in einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft braucht Menschen, die sich einlassen auf Widersprüche, Enttäuschungen und Verletzungen, Ideale und Kompromisse, Menschen, die aus historischen und aktuellen Niederlagen und Erfolgen für die Zukunft lernen wollen. Diese Menschen gibt es, es sind die starken Persönlichkeiten, deren Interessen und Initiativen auf Menschen in Bedrängnis und Not gerichtet sind.

Meine Erkenntnis ist die, dass Veränderungen möglich und durchsetzbar sind. Politik bewegt sich, wenn Bürger selbst in Eigeninitiative Veränderungen vornehmen. In der Politik kommt es nicht nur auf Fachkenntnisse, sondern entscheidend auf strategisches Denken an, auf argumentative Fähigkeiten, auf Überzeugungen und Haltungen, und nicht zuletzt auf Verbündete. Niemand kann allein etwas erreichen.

Von besonderer Aktualität ist dabei die Unterstützung aller Aktivitäten, die auf eine zeitgemäße, humanistische und demokratische Bewältigung der Herausforderungen durch Migrationsprozesse und gegen irrationale Fremdenfeindlichkeit gerichtet sind. Das betrifft offensichtlich die Gesellschaften vieler Länder, auch derer, die auf diesem Kongress vertreten sind. Deshalb ist es so wichtig, meine Damen und Herren, dass Sie das Thema dieses Kongresses von möglichst vielen Perspektiven aus beleuchten, damit wir voneinander lernen, den genannten Initiativen theoretischen Rückhalt zu bieten sowie argumentative Fähigkeiten und humanistische Überzeugungen und Haltungen zu stärken.

Ich wünsche allen, die an diesem Kongress teilnehmen, viel Erfolg in unserer gemeinsamen Arbeit und hoffe, dass die Beiträge mit Ihren Erfahrungen und Einsichten auch bald in schriftlicher Form zur Verfügung stehen.

Über die Autorin

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Rita Süßmuth: Präsidentin des Deutschen Bundestages von bis 1988 – 1998, website: www.rita-suessmuth.de/biografie/. Kontakt: rita.suessmuth@bundestag.de


Some Thoughts on the Conference “Diversity and Democracy – the Search for Identity in Challenging Times”

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Rita Süßmuth, Former President of the German Federal Parliament

Ladies and Gentlemen,

This conference entitled “Diversity and Democracy – the Search for Identity in Challenging Times” has brought together representatives of Comparative Educational Science and other Human Sciences from ten countries.

I associate many valuable experiences with my active time and work in the German Federal Parliament, meeting impressive people, overcoming great challenges and taking up opportunities. There were many crises and defeats, but also successes. Who could forget the fall of the Berlin Wall and the opening of the inner-German border with the many new encounters among Germans from East and West? It was and will remain the most dramatic and far-reaching event in my political life. And yet, the end of the Cold War and the raising of the Iron Curtain, but, above all, globalization gave rise to insecurity, fear and the need for repudiation. Democratic institutions are supposed to safeguard the people, while, at the same time, granting them freedom. It is all the more important for politicians to communicate the importance of these processes more clearly. A central maxim of present-day parlamentary thinking and action must be to regain the trust of the citizens. In addition, the participation of the people in making political decisions must be greater, in order to counter apathy, disappointment and dissatisfaction. Actively living out democracy fills words like consensus and difference of opinion with meaning; it wins people over through the courage to speak and face the truth and trust in the responsible co-participation of the people.

We have many long-neglected problems to solve, including demographic change, social and economic challenges and the current issues in digital information and communication. Here, it is a matter of viewing the problems not only from the macro level, but also from the point of view of the people, i.e. what they need, what they are not afraid to do and what they demand of themselves. We must do some hard thinking about what we think people are capable of, what we may expect of them, but also what we will not tolerate, nor accept. We thought we had overcome international crises, a return to nationalism, racism, violence and war. Millions of people are fleeing from violence, the misuse of religious faith, hunger and death. We have not made decisive progress in the non-violent resolution of conflicts. That is not encouraging, but rather a sobering thought. Germany is working towards finding solutions for the problems mentioned – that is a democratic process, requiring time for thought and to follow thought with action.

Globalization promised limitless opportunities in the life of every single person. But there are limits. Currently, we can observe this in the dealings of the IS state. We need new encouragement and paths to democratic involvement, expert knowledge and objectivity, but also emotion and passion.

I was always politically interested and involved, but had never planned to enter politics actively, being, as I was, an academic. Politics, I thought, as I had perceived it in my work up till then, was not to be reconciled easily with the freedom and independence of the mind or spirit, and it took me a long time to not let myself be monopolized, neither academically nor politically. Scientists and academics sometimes perhaps feel that they have a greater awareness or better insight, because their research findings can be tested. The freedom in my scientific work enabled me to analyze unfavourable social developments, irrespective of third party interests, and I neither had to slant my findings nor the consequences that could be drawn from them.

The search for identity is primarily an individual matter, it is an existential challenge, a challenge that lasts a lifetime. It is the question of who I am relative to others. How I can find myself in all the diversity around us. What makes me different to others and what unites us. A part of this, in biographical hindsight, is the reflection upon who I was, and who I am today, what explanation there is for the change. Who and what have made me what I am?

The search for identity not only concerns each of us, but also the commonalities and differences between the sexes, the old and the young, through to collective measures with their clîchés , prejudice and the diversity of characteristic features. It is, I believe, important for people to have the opportunity and the possibilities to grapple with questions of identity, to find themselves in all the diversity and to model their life along those lines.

Although bound by my values, I always found it important to be open to alternative thinking, open to the re-consideration of my persuasions and insights. That wasn’t always easy. Life in a pluralistic and democratic society needs people who are willing to tackle contradictions, disappointments and distress, tot hink about ideals and compromises. People who are willing to learn from past and present defeats and successes for the future. These people are among us, they have strong personalities, and their interests and initiatives are directed towards supporting people in need and hardship.

I see that change is possible and achievable. Politicians stir when the people start making changes under their own initiative. In politics it is not only a matter of specialist knowledge, but also, decisively, of strategic thinking, of argumentative power, of persuasions and attitudes and, last but not least, of allies. Nobody can achieve anything on their own.

The support of all activities directed towards overcoming the present humanistic and democratic challenges resulting from migration and irrational xenophobia is highly topical. The societies of many countries are involved, including those of the participants of this conference. It is therefore, ladies and gentlemen, so important for you to examine the topic of this conference from as many perspectives as possible, in order to learn from one another, to offer theoretical backing to the initiatives mentioned, but also to strengthen your argumentative powers and humanistic persuasions and attitudes.

I wish all those taking part much success in our common efforts and hope that the contributions to the conference, with your experiences and insights, will speedily appear in written form.

About the Author

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Rita Süßmuth: President of the Federal German Parliament from 1988 – 1998, website: www.rita-suessmuth.de/biografie/. Contact: rita.suessmuth@bundestag.de

Speech on the occasion of the conference of the International Academy for the Humanization of Education (IAHE) and the EU TEMPUS project: „Aus- und Weiterbildung für Pädagogen und Bildungsmanager im Bereich Diversity” [ed.: Further Training and Education for Teachers and Education Managers in the Field of Diversity], 13th – 16th September, 2016 at the University of Hildesheim Foundation.


Вступительное слово на открытии конгресса «Многообразие и демократия – поиск идентичности во времена неопределённости»

Рита Сюсмут, профессор, доктор наук. Бывший председатель Бундестага

Дамы и господа,

эта конференция на тему «Многообразие и демократия – поиск идентичности во времена неопределённости» собрала представителей сравнительной педагогики и других гуманитарных наук из 10 стран.

С моей работой в немецком Бундестаге я связываю ценный опыт общения и обмена с невероятными людьми, большие вызовы и возможности, трудности, поражения и успехи. Я вспоминаю о падении стены, об открытии границы и немецко-немецких столкновениях – это было и остаётся решающим событием моей политической жизни. Конец холодной войны и падение железного занавеса, но прежде всего глобализация породили кроме всего прочего неуверенность в завтрашнем дне, страхи и враждебность. Демократические институты должны оберегать людей, но в то же время и давать им свободу. Тем более важно, чтобы политики отчётливо говорили о значимости этих процессов. Основным принципом сегодняшнего парламентаризма должен стать возврат доверия граждан. Кроме этого, участие граждан в принятии политических решений должно усилиться, чтобы противодействовать апатии, разочарованию и недовольству. Активная демократия позволяет ощутить в реальности согласия и разногласия внутри общества, поощряет волю к правде, вызывает доверие и участие со стороны граждан.

Мы сталкиваемся с серьёзными проблемами, такими как демографические изменения, социальные и экономические вызовы, цифровая информация и коммуникация. При этом важно рассматривать эти проблемы не только на макроуровне, но и с перспективы обычных людей, их потребностей и потенциала. Необходимо более глубоко задуматься о том, насколько мы доверяем людям, что мы должны в них поощрять, но также и о том, чего мы не хотим терпеть и принимать. Мы думали, что уже преодолели международные кризисы, национализм, расизм, жестокость и войну. Но миллионы людей сейчас бегут от насилия, религиозного фанатизма, голода и смерти. Очевидно, что мы не так далеко продвинулись на пути к ненасильственному управлению и разрешению конфликтов. Этот факт не воодушевляет, но отрезвляет. Германия находится на пути к решению этих проблем – это демократический процесс, для которого понадобится много времени, раздумий и действий.

Глобализация обещала нам отсутствие границ в жизни каждого человека. Тем не менее, границы всё ещё существуют. Это доказывают нам сегодня действия ИГИЛ. Нам нужны новые ориентации и воодушевление для демократического участия, понимание проблем и объективность в подходе к ним, но также и эмоциональность и страсть.

Я всегда интересовалась политикой, но никогда не планировала для себя политическую карьеру, ведь я была учёной. Политика, как я её видела со своей научной перспективы, казалась мне чем-то, что невозможно объединить с духовной свободой и независимостью. И мне потребовалось много времени, чтобы не позволить использовать себя в политике или науке. Учёные часто ощущают своё превосходство, ведь результаты их исследований подлежат проверке. Свобода науки дала мне возможность анализировать отклоняющееся развитие общества независимо от интересов третьих лиц, а также многосторонне интерпретировать результаты и выводы из моей работы.

Поиск идентичности – это в первую очередь нечто личное, то, что ставит перед нами экзистенциальный вызов, определяет нашу жизнь. Вопросы о том, кем я являюсь по отношению к другим, как мне найти во всём многообразии мира самого себя, что отличает меня от других людей и что объединяет с ними. К этим вопросам относится и взгляд назад в собственную биографию, размышления о том, кем я был(а) раньше и кто я есть сейчас, как мне объяснить перемены, произошедшие со мной. Кто и что повлияло на меня?

Поиск идентичности затрагивает не только индивидуальные черты, но и общие, такие как различия между полами и поколениями вплоть до коллективных действий и их образцов, предрассудков и многообразия особенностей. Мне кажется важным, чтобы люди имели возможности размышлять над вопросами идентичности, находить себя в многообразии возможностей и проживать свой выбор.

В вопросе взаимосвязи ценностей мне всегда было важным быть открытой альтернативному мышлению, пересмотру собственных убеждений и знаний. Это не всегда было просто. Жизнь в плюралистическом и демократическом обществе требует людей, которые позволяют себе противоречия, разочарования и травмы, идеалы и компромиссы. Людей, которые готовы учиться на исторических и актуальных поражениях и успехах. Такие люди существуют, это сильные личности, чьи инициативы направлены на нуждающихся и притеснённых.

Моя точка зрения состоит в том, что перемены возможны и воплотимы в жизнь. Политика движется и меняется тогда, когда граждане сами берут инициативу в свои руки. В политике важны не столько профессиональные знания, сколько стратегическое мышление, аргументативные способности, убеждения и позиции, и не в последнюю очередь – союзники. Никто не может добиться чего-то в одиночку.

Особенную актуальность при этом имеет поддержка всех действий, направленных на своевременное, гуманистическое и демократичное преодоление вызовов, которые бросают нам миграционные процессы, и против иррациональной ксенофобии. Очевидно, это относится ко многим странам, в том числе и к тем, которые представлены на этом конгрессе. Поэтому, уважаемые участники, очень важно осветить тему этого конгресса со всех возможных сторон, чтобы мы могли научиться друг от друга теоретической базе для вышеназванных инициатив, а также усилить аргументативные навыки и гуманистические принципы и позиции.

Я желаю всем участницам и участникам этого конгресса большого успеха в нашей совместной работе и надеюсь, что доклады о вашем опыте и достижениях также скоро будут представлены и в письменном виде.

Об авторе

Рита Сюсмут, профессор, доктор наук. Бывший председатель Бундестага (1988-1998), сайт: www.rita-suessmuth.de/biografie/. Электронная почта: rita.suessmuth@bundestag.de

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