Entscheidungsfindung für einen internationalen Freiwilligendienst – Welche Rolle spielen soziale Herkunft und Bildungsverlauf der Freiwilligen?

By Henrike Genzel & Anja Franz | December 18, 2017

Summary (Henrike Genzel & Anja Franz: Decision Making for a Long Term International Voluntary Service – Which Role Do Social and Educational Background Play?): The article attempts to reveal differences in the decision process for a long term international voluntary service. Those differences are analyzed with regards to the social, as well as the educational background, of the people making the decisions. The findings are discussed in view of rational choice theories based on Boudon (1974). Guided interviews with future or former “traditional” and “non-traditional” volunteers from the organization “Aktion Sühnezeichen e.V.” are used as data basis. The results show that the motivation, as well as the decision process, are influenced by the individual access to voluntary services. “Non-traditional” volunteers often structure their decisions based on occasions whereas the “traditional” volunteer’s decision are mostly shaped by rational arguments. Financial costs and an inflexible flow of information are identified as structural barriers.
Keywords: international voluntary service, traditional volunteers, non-traditional volunteers, rational-choice-theory, educational decision, occasion-oriented behavior

Zusammenfassung (Henrike Genzel & Anja Franz: Entscheidungsfindung für einen internationalen Freiwilligendienst – Welche Rolle spielen soziale Herkunft und Bildungsverlauf der Freiwilligen?): Der Artikel versucht, Unterschiede in der Entscheidungsfindung für einen langfristigen internationalen Freiwilligendienst offenzulegen und untersucht diese in Bezug auf die soziale Herkunft und den Bildungsverlauf der Entscheidungstreffenden. Dies wird vor dem Hintergrund der an Boudon (1974) angelehnten Rational-Choice-Theorien zu Bildungsentscheidungen empirisch erörtert. Als Datengrundlage dienen leitfragengestützte Interviews mit angehenden und ehemaligen „traditionellen“ und „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden der Organisation „Aktion Sühnezeichen e.V.“. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Motivation sowie die Entscheidungsart von dem Zugang zu Freiwilligendiensten geprägt sind. Für „nicht-traditionelle“ Freiwilligendienstleistende stellen sich dabei Gelegenheitsstrukturen als wegweisend für die Entscheidung heraus. Der Entscheidungsprozess „traditioneller“ Freiwilligendienstleistenden ist vorrangig von rationalen Argumenten geprägt. Als strukturelle Barrieren werden die finanziellen Kosten sowie starre Informationsflüsse identifiziert.
Schlüsselwörter: Internationaler Freiwilligendienst, traditionelle/nicht-traditionelle Freiwillige, Rational-Choice-Theorie, Bildungsentscheidung, Gelegenheitsorientiertes Verhalten

Резюме (Хенрике Генцель & Анья Франц: Поиск решения для международной добровольной службы – Какую роль играют социальное происхождение и образование волонтеров?): В статье предпринимается попытка раскрыть различия в поиске решения для долгосрочной международной добровольной службы и исследует их в отношении социального происхождения и образования волонтеров. Это рассматривается эмпирически с учетом теорий рационального выбора образовательных решений, разработанных Будоном (1974). В качестве основных данных служат направляемые интервью с начинающими и бывшими «традиционными» и «нетрадиционными» волонтерами организации «Акцьон Зюнецайхен е.В». В качестве результата можно отметить, что мотивация, а также вид решения зависят от доступа к добровольным службам. При этом для «нетрадиционных» волонтеров в качестве основополагающего для принятия решения выступают случайные структуры. Процесс принятия решений «традиционных» волонтеров связан преимущественно рациональными аргументами. В качестве структурных барьеров определяются финансовые расходы, а также стабильные информационные потоки.
Ключевые слова: международная добровольная организация, традиционные/нетрадиционные волонтеры, теория рационального выбора, образовательное решение, случайно ориентированное поведение


Einleitung

Freiwilligendienste zeichnen sich dadurch aus, dass die Teilnehmenden sich in einer festgelegten Zeitspanne von sechs bis zwölf Monaten und in seltenen Fällen noch länger teilzeitlich oder vollzeitlich engagieren (Simonson, Vogel, Tesch-Römer & 2016, S. 176). Internationale Freiwilligendienste sind zudem dadurch gekennzeichnet, dass die Teilnehmenden für ein Projekt in einem anderen Land als dem jeweiligen Herkunftsland arbeiten. Für das Engagement erhalten sie entweder eine Aufwandsentschädigung oder keine monetären Entlohnung, die internationalen Freiwilligendienste können jedoch von staatlichen oder privaten Organisationen gefördert werden (Sherraden et al., 2006, S. 165).

Bei Betrachtung der sozialen Zusammensetzung der Gruppe der Freiwilligendienstleistenden fällt auf, dass vor allem junge Menschen mit bildungsnahem Hintergrund den Weg eines freiwilligen Jahres im Ausland wählen. So zeigen Ergebnisse des deutschen Freiwilligensurveys 2014, dass bei 18- bis 29-jährigen Teilnehmenden verschiedener Freiwilligendienstprogramme deutlich ausgeprägte Unterschiede bezüglich des Bildungsgrades festzustellen sind (siehe Abb. 1). Etwa 5,6% der Freiwilligendienstleistenden besitzen einen niedrigen Bildungsabschluss, 9,1% verfügen über einen mittleren Bildungsabschluss und 10,7% der Teilnehmenden haben einen hohen Bildungsabschluss absolviert (Simonson, Vogel & Tesch-Römer, 2016, S. 185). So nehmen beinahe doppelt so viele Menschen mit einem hohen Bildungsabschluss wie Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss an Freiwilligendienstprogrammen teil. Es kann entsprechend angenommen werden, dass höhere Bildung auch die Wahrscheinlichkeit, an einem Freiwilligendienst teilzunehmen, erhöht.

Abb. 1: Anteile von Personen, die einen Freiwilligendienst absolviert haben oder aktuell absolvieren, 2014, nach Alter und Bildung (aus: Simonson/Vogel/Tesch-Römer, 2016, S. 185)

Abb. 1: Anteile von Personen, die einen Freiwilligendienst absolviert haben oder aktuell absolvieren, 2014, nach Alter und Bildung (aus: Simonson/Vogel/Tesch-Römer, 2016, S. 185)

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine Studie zur Motivation der Teilnehmenden an internationalen Freiwilligendiensten: 97% der Bewerber_innen für das „Initiative Christen für Europa e.V.“-Programm besuchten zuletzt das Gymnasium und nur 3% besaßen andere Schulabschlüsse (Krettenauer & Gudulas, 2003, S. 224). Eine Erhebung zur sozialen Ungleichheit beim Erwerb transnationalen Bildungskapitals berichtet Ergebnisse darüber, inwiefern die Höhe des Einkommens der Eltern über die Wahrscheinlichkeit des Kindes, während der Schulzeit an Auslandsaufenthalten teilzunehmen, bestimmt. So absolvieren Kinder aus Familien mit geringem Einkommen kaum einen Auslandsaufenthalt, Kinder aus mittleren Schichten zu etwa fünf Prozent und Kinder aus den höchsten Einkommensgruppen zu etwa zwölf Prozent (Gerhards & Hans, 2012, S. 12).

Darüber hinaus wird auch im Kontext der Schüleraustausche der Besuch des Gymnasiums als bedeutende Variable hervorgehoben, die die Wahrscheinlichkeit eines Auslandsaufenthaltes wesentlich erhöht (ebd., S. 18). Weitergehend spielen auch die Bildungsabschlüsse der Eltern eine entscheidende Rolle. Nahezu kein Kind, dessen Eltern über einen Hauptschulabschluss verfügen, nahm an einem Auslandsprogramm teil. Dagegen gehen fast acht Prozent der Kinder, deren Eltern über das Abitur verfügen, ins Ausland, und über vierzehn Prozent der Kinder, deren Eltern einen Universitätsabschluss haben, konnten ebenfalls Auslandserfahrungen machen (ebd., S. 14). Neben dem Bildungsgrad spielt außerdem die soziale Herkunft in Form von finanzieller Sicherheit und den Bildungsabschlüssen der Eltern eine Rolle.

Traditionelle und nicht-traditionelle Freiwilligendienstleistende. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse kann eine Gruppe „traditioneller“ Freiwilligendienstleistender ausgemacht werden, welche in bildungsnahen Schichten aufgewachsen sind und ihren Freiwilligendienst nach dem Abschluss des Abiturs absolvieren. „Traditionelle“ Freiwilligendienstleistende zeichnen sich durch die finanziellen Sicherheit, welche ihnen von ihrem engen sozialen Umfeld mitgegeben wurde, dem hohen eigenen Bildungsstand sowie dem hohen Bildungsstand ihrer Eltern aus. Aus den bereits vorhandenen Forschungsergebnissen kann geschlossen werden, dass diese Voraussetzungen die Wahrscheinlichkeit einer Teilnahme an einem internationalen Freiwilligendienst erheblich erhöhen. „Nicht-traditionelle“ Freiwilligendienstleistende zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus bildungsfernen Milieus stammen, nicht über die allgemeinen Hochschulreife verfügen und/oder ihren Freiwilligendienst nicht direkt nach ihrem allgemeinbildenden Schulabschluss geleistet haben. Die Gruppe der „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden grenzt sich demnach durch mindestens einen der folgenden Aspekte von „traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden ab: finanziell eingeschränktes Leben, geringerer allgemeinbildender Schulabschluss als das Abitur oder der Zeitpunkt des Freiwilligendienstes liegt nicht direkt nach Beendigung eines allgemeinbildenden Schulabschlusses.

Nachfolgend wird der Forschungsstand zur Motivation Freiwilligendienstleistender zusammengefasst, um weitere Gründe, die bei der Entscheidung für einen Freiwilligendienst in Zusammenhang mit der sozialen Herkunft oder dem Bildungsverlauf eine Rolle spielen, vorzustellen.

Forschungsstand zur Motivation von Freiwilligendienstleistenden

Im Rahmen des Deutschen Freiwilligensurveys 2014 wurde unter anderem nach der Motivation zu freiwilliger Arbeit gefragt. Neben Gründen wie Spaß an der Tätigkeit, dem Zusammenkommen mit Menschen und der Mitgestaltung der Gesellschaft (Simonson, Vogel & Tesch-Römer, 2016, S. 418), wird auch der Erwerb von Qualifikationen, welche als wichtig für den weiteren Lebenslauf eingeschätzt werden, als Motivation angegeben. Bei Berücksichtigung des Bildungshintergrunds fällt auf, dass Menschen mit niedriger Bildung großen Wert auf das Zusammensein mit Menschen legen, während Menschen mittlerer und höherer Bildung die Mitgestaltung der Gesellschaft als besonders wichtig erachten (ebd., S. 422).

Mit Bezug auf die Teilnehmenden an internationalen Freiwilligendiensten zeigt sich, dass die Motive in Abhängigkeit von der jeweiligen Lebensphase, dem Alter sowie den Persönlichkeitseigenschaften und Einstellungen der Betreffenden variieren (Krettenauer & Gudulas, 2003, S. 222). So stellen Krettenauer und Gudulas (2003) in einer Studie zur Bereitschaft und den Motiven, einen Freiwilligendienst im Ausland zu leisten, im Zusammenhang mit Identitätsentwicklung fest, dass Freiwilligendienste für Jugendliche in erster Linie eine Gelegenheit darstellen, um berufliche Orientierung zu erlangen oder Erfahrungen für ihren späteren Berufsweg zu sammeln. Menschen, die bereits berufstätig sind, sehen den Freiwilligendienst hingegen eher als Ausgleich zum beruflichen Alltag. Insofern korrespondiert der Dienst im Ausland mit den für die jeweiligen Lebensphasen spezifischen Entwicklungsaufgaben (ebd., S. 222). Für die Schulabsolvent_innen stellt der Freiwilligendienst im Ausland vor allem eine Möglichkeit zur Identitätsentwicklung dar, da das Kennenlernen einer neuen Kultur, die Berufsplanung und das erstmals von der Familie unabhängige Leben im Vordergrund stehen.

Daneben ist die Übernahme sozialer Verantwortung und die Erarbeitung des eigenen politisch-moralischen Engagements ein bedeutender, wenn auch nachgestellter, Faktor (ebd.; Mundorf, 2000, S. 70 f.). Die am meisten bestätigten Motive für einen Freiwilligendienst im Ausland sind der Studie zufolge: „Auslandserfahrung (…), gefolgt von Ideale, Berufsqualifikation, Ablösung vom Elternhaus/Selbstfindung und berufliche Orientierung“ (Krettenauer & Gudulas, 2003, S. 225). Da viele dieser Aspekte für die Identitätsentwicklung eine tragende Rolle spielen, kann geschlussfolgert werden, dass Menschen, die aktiv zur Verfügung stehende Optionen und Möglichkeiten erkunden sowie abwägen und damit dem Stadium der Identitätssuche zugeordnet werden können, eher dazu neigen, einen internationalen Freiwilligendienst in Erwägung zu ziehen (ebd., S. 223).

Unterschiede zwischen Bewerber_innen und Nicht-Bewerber_innen für internationale Freiwilligendienste finden sich in den Aspekten „Auslandserfahrung“, „Ideale“ und „berufliche Orientierung“. Diese wurden von den Bewerber_innen stets höher bewertet (ebd.).

Motive variieren je nach Freiwilligendienstorganisation

Auch in Studien zu den Motiven, Wünschen und Erwartungen zukünftiger weltwärtsi-Teilnehmer_innen zu den Anregungen, einen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst zu leisten, wird die Wahrnehmung des Dienstes als Lern- und Weiterentwicklungsmöglichkeit identifiziert. So erhoffen sich die zukünftigen Freiwilligen, Perspektivwechsel zu lernen und bisher unbekannte Lebenswelten direkt mitzuerleben (Gritschke, Metzner & Overwien, 2011, S. 326 ff.). Weiterhin ist es ein Anliegen der Freiwilligen, entwicklungspolitische Zusammenhänge durch Erfahrungen aus erster Hand besser zu verstehen und vor diesem Hintergrund auch mit eigenen Vorurteilen und Vorurteilen vonseiten des Gastlands umgehen lernen ( ebd., S. 331).

In Bezug auf den Lebenszeitpunkt des Dienstes wird der Freiwilligendienst von Abiturient_innen als Beendigung eines Lebensabschnitts und Beginn eines neuen angesehen. Für Menschen in anderen Lebensphasen stellt ein Freiwilligendienst eher eine Umorientierung, Auszeit, Flucht vor Überforderung oder Flucht aus dem Alltag dar (Schwinge, 2011, S. 55 f.). Motive, wie „Auslandserfahrung“, „berufliche Orientierung“, „persönliche Weiterentwicklung“ (durch die Auseinandersetzung mit fremden Lebenswelten) spielen eine Rolle bei der Entscheidung, einen Freiwilligendienst im Ausland zu absolvieren. Außerdem scheint die momentane Lebenssituation relevant für die Entscheidung zu sein. Insgesamt zeigt sich, dass die Motive in Verbindung mit der jeweiligen Organisation gesehen werden müssen, da die inhaltlichen Schwerpunkte und formalen Rahmenbedingungen variieren.

Individuelle Merkmale der Freiwilligen bleiben unberücksichtigt

Die Motive wurden meist jedoch nicht in Verbindung mit individuellen Eigenschaften der Teilnehmenden untersucht. Ausnahmen stellen der Freiwilligensurvey (2016), welcher unter anderem nach Bildungshintergrund differenziert, und die Erhebung von Krettenauer und Gudulas (2003), welche den Zusammenhang zwischen der Bereitschaft für einen Freiwilligendienst und dem Ausmaß an Identitätssuche beleuchtet, dar. Inwiefern soziokulturelle Merkmale einen Einfluss auf die individuelle Motivation haben, wird in keiner Auseinandersetzung thematisiert. In diesem Zusammenhang sind auch Argumente gegen einen internationalen Freiwilligendienst, in Betracht gezogene Alternativen und die Unterschiedlichkeit dieser Ergebnisse interessant und werden dementsprechend in dieser Studie berücksichtigt.

Theorien zu Bildungsentscheidungen

Freiwilligendienste als informelle Bildungsangebote

Um bildungsbezogene Entscheidungstheorien auf die Entscheidung für einen internationalen Freiwilligendienst anwenden zu können, muss dieser zunächst als Bildungsangebot gerahmt werden. Da internationale Freiwilligendienste auf der einen Seite viele Lernmöglichkeiten bieten (Gerhards & Hans, 2012, S. 7; Sherraden, Lough & McBride, 2008, S. 409 f.; Metz, McLellan & Youniss, 2003, S. 195 ff.; Mangold, 2012, S. 1506 f.) und den Kompetenzerwerb fördern (Hübner, 2010, S. 76; Gerhards & Hans, 2012, S. 7), die individuelle Entwicklung auf der anderen Seite allerdings nicht in Form von Zertifikaten festgehalten werden und darüber hinaus nicht in Institutionen stattfindet, scheint deren Beschreibung als informelles Lernangebot, nach Erpenbeck und Sauer (Erpenbeck & Sauer, 2001, S. 30 f.), passend zu sein.

Rational-Choice-Theorien zur Erklärung sozialer Ungleichheit

Rational-Choice-Theorien erklären Bildungschancen als Resultat individueller und sozial determinierter Bildungsentscheidungen in Verbindung mit den institutionell vorgegebenen Mechanismen der Bildungsübergänge (Becker, 2011, S. 106). Diesen Theorien folgend werden Bildungsentscheidungen auf der Grundlage komplexer Abwägungsprozesse getroffen und differenzieren sich so von routiniertem Alltagsverhalten (ebd., S. 107). Die Entstehung dieser Theorien geht auf Boudons Konzeption der primären und sekundären Herkunftseffekte (1974) zurück. Der für diese Studie entscheidende sekundäre Herkunftseffekt bezieht sich auf Bildungsentscheidungen, welche als Gelenkstellen einer Bildungsbiographie dargestellt werden, und beschreibt die schichtspezifische Einschätzung von Kosten und Nutzen eines konkreten Bildungsweges (Becker, 2011, S. 111).

Auf der Seite des Nutzens zählt unter anderem der Erhalt des sozialen Status der Familie, aufseiten der Kosten spielt die soziale Distanz zur jeweiligen Bildungsform eine einflussreiche Rolle (Becker, 2011, S. 112). Darüber hinaus differiert die Bedeutung der objektiven Kosten in Abhängigkeit von den sozioökonomischen Voraussetzungen der Familie (Brake & Büchner, 2012, S. 99).

Neben finanziellen können auch soziale Kosten als Argumente für oder gegen einen speziellen Bildungsgang sprechen, was beispielsweise eine Situation beleuchtet, in der die Entscheidung für einen bestimmte Schulform gleichzeitig den Verlust eines mehr oder weniger großen Teils des Freundeskreises bedeuten kann. Im Falle von Entfremdungsprozessen zur Herkunftsfamilie durch die Teilhabe an höherer Bildung und die Erschließung neuer sozialer und kultureller Horizonte kann ebenso von sozialen Kosten die Rede sein (ebd., S. 99).

Die Bildungsentscheidung ist darüber hinaus von dem Wissen über zur Verfügung stehende Bildungsangebote sowie der Struktur des Bildungswesen in Bezug auf Übergänge abhängig (Becker, 2011, S. 112). Die Entscheidungen werden von Boudon (1974) als rational „im Sinne einer quasi-ökonomischen Investitionsentscheidung“ (Becker, 2011, S. 112) bewertet, da die Optionen in Verbindung mit der sozialen Position und den Ressourcen der Familie abgewogen werden (ebd., S. 112). Er weist nach, dass die Wahrscheinlichkeit der Wahl eines höheren Bildungsweges, bei gleicher Schulleistung, in Abhängigkeit von der sozialen Herkunftsschicht variiert (Boudon, 1974, S. 85).

Als Erweiterung zu Boudons Theorie der sekundären Herkunftseffekte (1974), bringt Hillmert (2010) entscheidungstheoretische Modelle in die Auseinandersetzung ein. Diese beleuchten rationale Bildungsentscheidungen hinsichtlich bedeutender Einflussfaktoren und weisen außerdem auf die Grenzen des Rational-Choice-Modells hin.

Entscheidungstheoretische Ansätze von Hillmert (2010)

Hillmert (2010) berücksichtigt drei zentrale Entscheidungsheuristiken: „Rationale Wahl: Statuserhalt und Bildungsinvestitionen“, „Soziokulturelle Nähe“ und „Gelegenheitsorientiertes und Nachahmungsverhalten“ (Hillmert, 2010, S. 98f.).

Das Entscheidungsmodell der rationalen Wahl

In dem Entscheidungsmodell der rationalen Wahl wird die Variabilität des Entscheidungsspielraums fokussiert, welcher durch individuell und strukturell verfügbare Optionen eingegrenzt ist. Bei der Kosten-Nutzen-Rechnung bezüglich der Bildungsinvestition müssen demzufolge sowohl die zeitliche Komponente der individuellen Bildungsplanung, als auch die jeweiligen Bildungsalternativen eingerechnet werden (ebd.). Die Entscheidung ist weiterhin von dem Wissen über Alternativen und deren Konsequenzen geprägt, welches unter Umständen durch die Entfernung zwischen Bildungsangebot und lebensweltlichen Erfahrungen eingegrenzt sein kann (Hillmert, 2003, S. 24). Zusätzlich sollte die soziale Selektivität des Informationsverhaltens als mögliche Einflussquelle berücksichtigt werden (Hillmert, 2010, S. 99).

Das Entscheidungsmodell der soziokulturellen Nähe

Das Entscheidungsmodell der soziokulturellen Nähe bezieht die schichtspezifischen „Bedeutungs- und Relevanzstrukturen der Lebenswelt“ (ebd.) in die theoretische Auseinandersetzung zu Bildungsentscheidungen ein. Vor diesem Hintergrund kommt vor allem der Passung zwischen Bildungsanforderungen und „erfahrungsweltlichen Relevanzstrukturen“ (ebd.) eine große Bedeutung zu. Dementsprechend herrscht in verschiedenen Milieus ein unterschiedliches Verständnis darüber, welche Fähigkeiten und Erfahrungen aneignungswürdig und vorteilhaft sind (Hillmert, 2003, S. 25). Insofern muss das Bildungsangebot vor allem im sozialen Kontext funktional sein, um in Betracht gezogen beziehungsweise angenommen zu werden (Hillmert, 2010, S. 99).

Das Entscheidungsmodell der Gelegenheitsstrukturen

In dem dritten Entscheidungsmodell, welches sich auf Gelegenheitsstrukturen und nachahmendes Verhalten bezieht, wird rationales Handeln in Bezug auf Bildungsentscheidungen kategorisch ausgeschlossen (ebd., S. 100). Stattdessen seien Menschen gezwungen, auf schichtspezifische Handlungsmechanismen zurückzugreifen, die im jeweiligen Umfeld als bewährte kulturelle Normen angesehen werden, selektive Aufmerksamkeit hervorbringen und somit die Anzahl an Alternativen reduzieren (Hillmert, 2003, S. 26).

Auf der Mikroebene orientieren sich Menschen demnach an ihrem eigenen Verhalten oder dem Verhalten von Familienmitgliedern. Bildungsverläufe der Geschwister dienen beispielsweise als Maßstab für eigene Bildungsentscheidungen oder die Selbstwirksamkeitserfahrungen der Eltern wirken auf die Entscheidung ein, indem das so weitergegebene Wissen Richtwerte impliziert und so einen Rahmen bildet (Hillmert, 2010, S. 101). Auf der Mesoebene sind sowohl zentrale Bezugspersonen im Freundschaftskreis des Individuums und der Familie als Orientierungswert bedeutend, als auch aktuelle Gelegenheitsstrukturen, welche spontan genutzt werden können. Die Orientierung auf der Makroebene findet in Bezug auf das jeweilige Makromilieu statt, welches durch wahrgenommene Ähnlichkeit, aber nicht zwangsläufig persönlichen Kontakt, konstruiert wird (ebd.).

Anwendung der Theorien auf die Entscheidung für einen Freiwilligendienst

Die Entscheidung für ein solches informelles Bildungsangebot ist fakultativ, da es sich um ein zusätzliches Angebot zur verpflichtenden institutionellen Bildung handelt und in einer Zeitspanne von zehn oder mehr Jahren absolviert werden kann. Daraus ergibt sich, dass die Anzahl an Optionen weniger eingegrenzt und vorgegeben ist. Zudem muss für das Zustandekommen einer Entscheidung das Bewusstsein für die zur Verfügung stehende Möglichkeit existieren. Durch die Vielzahl an unterschiedlichen Angeboten mit differierenden Rahmenbedingungen und der Unabhängigkeit der Programme von formalen Bildungsinstitutionen wird die objektive Einschätzung von Kosten und Nutzen eines internationalen Freiwilligendienstes erschwert. Die Auswirkungen dieser Unsicherheit auf subjektive Einschätzungen von Kosten und Nutzen wären zu überprüfen.

Auch die Auswirkungen des Freiwilligendienstes auf den sozialen Status der jeweiligen Person kann, durch den eher unspezifischen Ertrag eines Freiwilligendienstes, nicht ohne weiteres vorhergesagt werden. Stattdessen könnte das Prestige oder, in dem Vokabular von Gerhards und Hans (2012), das „transnationale Bildungskapital“ eines langfristigen Auslandsaufenthaltes als Äquivalent eingesetzt werden.

Insgesamt weisen die Theorien zur Entscheidungsfindung darauf hin, dass sich die soziale Herkunft in verschiedener Weise auf den Entscheidungsprozess und somit das Ergebnis auswirken kann. In der Auswertung der Ergebnisse wird sich zeigen, welche der Ansätze die Unterschiede in den Entscheidungen am besten erklären kann und ob sich die Anwendung verschiedener Ansätze für unterschiedliche Fälle anbietet.

Hypothesen

Die Hypothesen wurden dem Hintergrund der Ergebnisse zur Freiwilligendienstforschung und den Entscheidungsfindungstheorien entwickelt und sollen anhand problemzentrierter Interviews untersucht werden.

Die erste Annahme lautet: Die konkreten Motive der internationalen Freiwilligendienstleistenden variieren in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft und des Bildungsverlaufs. So wird erwartet, dass „nicht-traditionelle“ Freiwillige andere inhaltliche Beweggründe für die Teilnahme an einem Freiwilligendienst haben als „traditionelle“ Freiwillige. Diese Annahme ist darin begründet, dass die Motive für Freiwilligendienste sowohl von der jeweiligen Lebenssituation (Schwinge, 2011, S. 55 f.; Krettenauer & Gudulas, 2003, S. 222; Hudson, 2004, S. 147) und Bildungshintergrund (Simonson, Vogel, & Tesch-Römer, 2016, S. 422) als auch vom Alter der Personen abhängen (Krettenauer & Gudulas, 2003, S. 222; Simonson, Vogel, & Tesch-Römer, 2016, S. 421; Hudson, 2004, S. 166).

Die zweite Annahme lautet: Die Art der Entscheidungsfindung für einen internationalen Freiwilligendienst differiert in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft und des Bildungsverlaufs. Diese Hypothese schließt sich an die Vermutung Hillmerts (2010) an, dass die entscheidungstheoretischen Ansätze von Menschen unterschiedlicher Milieus auch als verschieden legitim empfunden werden (Hillmert, 2010, S. 101). Sie besagt demnach, dass sich der (unbewusst) angewandte entscheidungstheoretische Ansatz je nach sozialer Herkunft unterscheidet.

Die dritte Hypothese besagt: „Nicht-traditionelle“ Bewerber_innen müssen eher strukturelle Barrieren überwinden, um einen internationalen Freiwilligendienst zu leisten, als „traditionelle“ Bewerber_innen. Als Hinweis für die Existenz solcher Hürden wurden die Statistiken zur sozialen Zusammensetzung der Gruppe (internationaler) Freiwilligendienstleistender berücksichtigt (Simonson; Vogel, & Tesch-Römer, 2016, S. 185; Krettenauer & Gudulas, 2003, S. 224). Demnach nehmen vorrangig Abiturient_innen an Programmen dieser Art teil. Der Besuch des Gymnasiums kann dabei als Zeichen für bildungsnahe Herkunftsmilieus gesehen werden (Kramer, 2011, S. 132). Zudem zeigen Gerhards und Hans (2012) die Bedeutung der finanziellen Ressourcen der Familie für die Teilnahme an Auslandsaufenthalten (Gerhards & Hans, 2012, S. 29) und weisen damit ebenso auf die soziale Ungleichheit beim Zugang zu internationalen Bildungsangeboten hin.

Methodik

An dieser sondierenden Studie nahmen vier ehemalige bzw. zukünftige Freiwilligendienstleistende teil. Sie alle absolvierten bzw. werden einen Freiwilligendienst mit der Organisation „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V.“ absolvieren. Die Organisation setzt sich mit dem Fokus der Sensibilisierung für die Folgen des Nationalsozialismus für internationale Verständigung und Friedensförderung ein (ASF e.V., 2016, o.S.).

Die Auswahl der Interviewpartner_innen ist teilweise aus persönlichen Kontakten und teilweise aus dem gemeinsamen Kontakt zur Organisation ASF e.V. hervorgegangen. Die Interviewpartner_innen unterscheiden sich teilweise hinsichtlich ihrer Bildungsverläufe oder bezüglich ihrer sozialen Herkunft. So kann die Hälfte der interviewten Personen als „traditionelle“, die andere Hälfte als „nicht-traditionelle“ Freiwilligendienstleistende eingestuft werden. Außerdem sind zwei der Befragten ehemalige Freiwillige, sie absolvierten ihren Freiwilligendienst von 2012 bis 2013 und blicken während des Interviews auf die Zeit zurück, während die anderen beiden Befragten kurz vor ihrem Freiwilligendienst stehen, sie werden 2016 bis 2017 einen Freiwilligendienst mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste durchführen.

Die Erhebung der Daten erfolgte über problemzentrierte, halbstandardisierte Interviews, um Offenheit bezüglich der Bedeutungsstrukturen der Interviewpartner_innen zuzulassen und gleichzeitig den Problembereich durch Leitfragen eingrenzen zu können (Lamnek, 2005, S. 364 f.). Die Interviews wurden transkribiert und anschließend mithilfe der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016) ausgewertet.

Die Datenerhebung zur sozialen Herkunft erfolgte über einen Fragebogen, der per Email an die Interviewpartner_innen versandt wurde. In Anlehnung an die CASMIN-Klassifikation, welche Angaben zur allgemeinen und zur beruflichen Ausbildung in die soziale Positionierung einbezieht und sich dabei jeweils an Zertifikaten orientiert (Lechert, Schroedter & Lüttunger, 2006, S. 3), erfasst der Fragebogen den höchsten allgemeinbildenden sowie beruflichen Abschluss der Interviewpartner_innen und deren Elternii. Ergänzend dazu werden das Alter und der aktuelle Erwerbsstatus der Interviewpartner_innen und die aktuelle berufliche Beschäftigung der Eltern erfragt.

Ergebnisse

Freiwilligendienst als Selbstverständlichkeit: Traditionelle Freiwillige

Zunächst ist zu sagen, dass „traditionelle“ Freiwillige bezüglich der Entscheidungsfindung viele Parallelen aufzeigen. Hinsichtlich der Rechercheart (Internetrecherche) und den als Alternativen wahrgenommenen Angeboten (Work & Travel, Au Pair, Reisen, Praktika, …) sind die Entscheidungsverläufe der „traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden sehr ähnlich. Sie erwähnen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und ohne die Hintergründe des Vorhabens zu nennen, dass sie „schon immer“ (B1b, S. 1) ein Jahr im Ausland verbringen wollten. Die Rahmung der Auslandserfahrung als anzustrebende Befähigung wird durch die Nennung der Verwertbarkeit in Hinsicht auf ihre professionelle Laufbahn unterstützt. Neben finanziellen Mitteln, welche diese Vielfalt an Optionen ermöglichen, trägt die Auffassung des langfristigen Auslandsaufenthalts als unbedingter Wert dazu bei, dass die Möglichkeit der Teilnahme an einem Freiwilligendienst als selbstverständlich aufgefasst wird.

Dabei kann eine rationale Entscheidung nachgezeichnet werden, da die „traditionellen“ Befragten rationale Argumente für ihre Entscheidungen formulieren können und sich so den Weg durch die Vielzahl an Angeboten gesucht haben. Im Rahmen der Kosten-Nutzen-Abwägung nach Boudon (1974) stehen hierbei weniger finanzielle Kosten im Vordergrund. Die Befragten betrachten stattdessen die Menge der durch die Entscheidung für einen Freiwilligendienst ausgeschlossenen Optionen als Entbehrung. So wird die Motivation für einen Freiwilligendienst gegen die dadurch nicht wahrnehmbaren Möglichkeiten abgewogen.

Alles in allem zeigt sich, dass die Spanne der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten je nach sozialer Herkunft variiert. Während „traditionelle“ Freiwillige ihre Angebote filtern müssen, basiert die Entscheidungsfindung der „nicht-traditionellen“ Freiwilligen auf einem oder wenigen Auslandsprogrammen, welche bei einer interviewten Person je nach Höhe der Kostenbeiträge in Frage kommen oder nicht.

Persönlicher Zugang entscheidend: „Nicht-traditionelle“ Freiwillige

Bei der Betrachtung des ersten Kontakts zur Freiwilligendienstorganisation sind deutliche Unterschiede feststellbar. Für die „traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden stellt das Internet die Hauptkontaktquelle zu zur Freiwilligenorganisation dar, während die „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden vor allem persönlichen Kontakt zu ehemaligen Freiwilligen hatten. Hier zeigt sich, dass der direkte Kontakt für die „nicht-traditionellen“ Freiwilligen offenbar Sicherheit und Klarheit über das Freiwilligendienstprogramm vermittelt. Teilweise wird erst durch den persönlichen Kontakt die Aufmerksamkeit auf einen Freiwilligendienst gelenkt. In den hier untersuchten „nicht-traditionellen“ Fällen deutet sich die von Hillmert (2012) beschriebene Gelegenheitsstruktur an, da erst die persönliche Verbindung die Möglichkeit eröffnet, einen Freiwilligendienst wahrzunehmen.

Die auffällig unterschiedlichen Informationsquellen können außerdem auf starre, schulformgebundene Informationsflüsse hindeuten. Eventuell ist das Wissen und Bewusstsein über Freiwilligendienstprogramm an Gymnasien sehr viel präsenter und verbreiteter.

Darüber hinaus können andere formale Hürden für junge Menschen mit einem bildungsfernerem Hintergrund festgestellt werden. Im Rahmen der Bewerbung für einen internationalen Freiwilligendienst wird z. B. ein ausformulierter Lebenslauf mit dem Fokus auf prägnanten Erlebnissen gefordert und es sind einige Fragen zu beantworten. Dabei ist eine elaborierte Ausdrucksweise von Vorteil und erhöht eventuell die Wahrscheinlichkeit, zu einem Auswahlseminar eingeladen zu werden.

Zusätzlich muss vor Beginn des Freiwilligendienstes ein finanzieller Eigenbeitrag geleistet und ein Patenkreis gefunden werden, in dem etwa 15 Menschen monatlich Geld an „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V.“ überweisen. Hier zeigen sich klare finanzielle Hürden, die eine Benachteiligung junger Menschen aus sozialschwächeren Schichten zufolge haben.

Diskussion der Ergebnisse und theoretische Einordnung

Soziale Homogenität der Freiwilligendienstleistenden

Zunächst kann anhand der Schwierigkeit, „nicht-traditionelle“ Interviewpartner_innen zu finden, die Vermutung der sozialen Homogenität unter Freiwilligendienstleistenden bestätigt werden. Trotz vieler Bekanntschaften mit Freiwilligendiensterfahrungen und mehrerer Versuche, durch Verteiler-E-Mails entsprechende Interviewpartner_innen zu finden, stellte diese Suche eine große Herausforderung dar, welche auch unter Berücksichtigung der Sensibilität des Themas als Hinweis für die geringe Zahl an „nicht-traditionellen“ Teilnehmenden genommen werden kann.

1. Hypothese: Die konkreten Motive der internationalen Freiwilligendienstleistenden variieren in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft und des Bildungsverlaufs.

Bezüglich der Motivation können viele der bereits in der theoretischen Betrachtung genannten Aspekte, wie zum Beispiel persönliche Entwicklung (Simonson, Tesch & Römer, 2016, S. 421), Selbstständigkeit (Krettenauer & Gudulas, 2003, S. 227) und Übergang zwischen zwei Lebensabschnitten (Schwinge, 2011, S. 55 f.) repliziert werden. Hervorzuheben ist jedoch die Tatsache, dass nur „traditionelle“ Freiwillige das Motiv der „Auslandserfahrung“ explizit erwähnen und damit eventuell auf schichtspezifische Bedeutungsstrukturen verweisen, da der Beweggrund als selbstverständlich und grundlegend erwähnt wird:

„also es war schon immer klar, dass ich ins Ausland will nach dem Abi“ (B1a, S. 1),

„weil eigentlich wollte ich schon vor ganz, ganz langer Zeit irgendwie mal ein Jahr ins Ausland gehen“ (B4, S. 1).

Diese Vermutung unterstützend, zeigen ebendiese Freiwilligendienstleistenden ein Bewusstsein für die durch einen Freiwilligendienst erworbene berufliche Qualifikation:

„also ich hab mir bestimmt nicht gedacht, dass es jetzt total schweiße im Lebenslauf aussieht, also dass es schon auch dafür nicht schlecht ist“ (B1a, S. 4),

„deswegen hoffe ich natürlich, dass ich dann so nach dem Jahr irgendwie sozusagen schon Erfahrungen gesammelt hab in dem, was ich halt später auch machen will und dass mir das dann so auch eher in der beruflichen Hinsicht weiterhilft“ (B4, S.8).

Interessant ist der Vergleich zu den Ergebnissen der Studie von Krettenauer und Gudulas (2003), welche „Auslandserfahrung“ und „Berufsqualifikation“ unter den drei am häufigsten erwähnten Motiven für einen Freiwilligendienst aufzählen. Der Unterschied hinsichtlich der Dominanz beider Motive lässt sich durch die unterschiedliche soziale Zusammensetzung der Befragteniii erklären und verstärkt dadurch die Annahme, dass die Aspekte Ausdruck schichtspezifischer Bedeutungsstrukturen höherer gesellschaftlicher Milieus sind. In den Erzählungen der „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden wird der Wunsch nach einem langfristigen Auslandsaufenthalts nicht als selbstverständlich erwähnt und die Nützlichkeit dessen für die professionelle Entwicklung nicht aufgegriffen.

Vor diesem Hintergrund kann die erste Hypothese, die Motive für einen langfristigen internationalen Freiwilligendienst variieren in Abhängigkeit von sozialer Herkunft und des Bildungsverlaufs, teilweise bestätigt werden. So können neben vielen gemeinsamen Beweggründen, welche sich vor allem auf die inhaltlichen Themen der Freiwilligendienstorganisation beziehen, unterschiedliche Schwerpunkte bei den „traditionellen“ und „nicht-traditionellen“ Befragten bezüglich der Motivation für den Freiwilligendienst festgestellt werden. Dabei stechen jedoch eher die Gemeinsamkeiten in den Antworten der „traditionellen“ Freiwilligen heraus, als die Polarisierung entlang der sozialen oder bildungsbezogenen Unterschiede.

2. Hypothese: Die Art der Entscheidungsfindung für einen internationalen Freiwilligendienst differiert in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft und des Bildungsverlaufs.

Die Ähnlichkeit der Beweggründe und Argumentationen für einen internationalen Freiwilligendienst von den „traditionellen“ Freiwilligen ist vor allem vor dem Hintergrund des ähnlichen Spektrums an Auslandsangeboten verständlich. Insofern hängen die geäußerten Motive stark mit dem Entscheidungsverlauf und somit dem Zugang zu Freiwilligendiensten zusammen. Dieser Zusammenhang zeigt sich auch in der Auseinandersetzung mit den Motiven der „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden, wobei zwar keine spezifischen inhaltlichen Muster festgestellt werden können, doch als Gemeinsamkeit ihr Zugang zu Freiwilligendiensten durch persönliche Bekanntschaften oder Begegnungen geschaffen wurde und die Motive von diesem Zugang geprägt sind:

„einfach so aus meinem privaten Umfeld war das für mich das Ausschlaggebende, sowas auch zu machen“ (B2, S. 1).

„Nicht-traditionelle“ Freiwilligendienstleistende weisen eine enge Verknüpfung zwischen dem Zugang zur Organisation und den konkreten Motiven auf. So ziehen jene Interviewpartner_innen erst durch den Kontakt zur jeweiligen Organisation einen Freiwilligendienst in Betracht:

„weil auch eine Freundin von mir, die war damals mit Aktion Sühnezeichen in Tschechien und da kam ich dann auf die Organisation“ (B2, S. 4).

Gelegenheitsentscheidungen für einen Freiwilligendienst: „Nicht-traditionelle“ Freiwillige

Die zweite Annahme besagt, dass die Art der Entscheidungsfindung je nach sozialer Herkunft und Bildungsverlauf differiert, sodass nicht in jedem Fall von rationalen Entscheidungen ausgegangen werden kann. In den Fällen der „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden können stattdessen Gelegenheitsstrukturen festgestellt werden, die den Weg zur Bewerbung bahnen. Laut Hillmert (2010) schließen auf Gelegenheitsstrukturen und nachahmendem Verhalten aufbauende Entscheidungen rationales Verhalten aus, da anstelle dessen selektive Aufmerksamkeit zum Tragen kommt (Hillmert, 2010, S. 101).

In den Interviews der „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden zeigen sich die Gelegenheitsstrukturen auf verschiedenen Ebenen, wobei in allen Fällen ein ausschlaggebendes Ereignis oder eine Begegnung erwähnt wird:

„da waren wir auch im Anne-Frank-Haus (…) und da haben wir zwei ASF-Freiwillige auch kennengelernt (…) und das war auch, dass ich dann mehr sozusagen von der Arbeit der Freiwilligen so mitbekommen haben (…) und das was dann eigentlich so der Moment, wo ich gesagt habe, okay, ich möchte das auch ausprobieren“ (B3, S. 5).

Die Gemeinsamkeit der Antworten besteht dementsprechend darin, dass die Befragten die Bewerbung nicht aus eigenem Antrieb in Angriff nahmen:

„und dann wurde ich zum Teil ein bisschen überredet, dass ich es doch einfach mal probieren soll“ (B3, S. 2).

Eventuell kann diese Art der Entscheidung, nicht die Initiative zu ergreifen, als schichtspezifisches rationales Abwägen interpretiert werden, da die Freiwillige von der hohen Kostenerwartung abgeschreckt war, diese Erwartung ihre Wünsche überdeckt und dazu führt, dass sie sich nicht näher mit der Möglichkeit auseinandersetzt. In einer Boudon‘schen Rahmung könnten so die Relativität der Kosteneinschätzung und die Relativität der Kostenbedeutung (Becker, 2011, S. 111 f.) nachgewiesen werden. Durch die Begegnung mit aktuellen Freiwilligen, den Einblick in deren Arbeitsalltag und deren Zuspruch konnte die Bewerbung jedoch trotz der Erwartungen durchgeführt werden. Hier zeigt sich die große Bedeutung einer Gelegenheit für den Entscheidungsprozess der „nicht-traditionellen“ Freiwilligen, wodurch das rationale Verhalten überwunden werden kann und die Charakterisierung Hillmerts (2010) der Gelegenheitsstrukturen als Aussetzen rationalen Handelns bestätigt wird.

Das Motiv der Auslandserfahrung als Ausdruck schichtspezifischer Relevanzstrukturen: „Traditionelle“ Freiwilligendienstleistende

Auch in den über die ursprüngliche Motivation hinausgehenden Entscheidungsprozessen, können einige Ähnlichkeiten zwischen den „traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden festgestellt werden. Sie verbalisieren verschiedene Entscheidungsphasen und teilen ihre Beweggründe für die einzelnen Teilentscheidungen mit, sodass das bewusste Filtern an Möglichkeiten als rationales Verhalten gedeutet werden kann. In beiden Fällen werden nicht wahrnehmbare Alternativen, wie beispielsweise freies Reisen, als Argumente gegen einen Freiwilligendienst genannt, welche in Boudons Begrifflichkeiten den Kosten des jeweiligen Angebots entsprechen:

„ich musste mich halt entscheiden, will ich eher reisen oder will ich eher fix an einem Ort sein und arbeiten?“ (B1b, S. 4),

„dann ja, hatte ich so die verschiedenen Optionen, eben Au Pair oder Work and Travel oder Freiwilligendienst und Au Pair wollte ich dann nicht (…) sondern wollte schon irgendwie ein bisschen selbstständig sein, aber Work and Travel hatte ich dann auch nicht so große Lust drauf, weil ich dann (…) mehr was so wirklich sinnvolles sozusagen tun wollte“ (B4, S. 1).

Neben diesen verbalisierbaren Abwägungen, spielen jedoch auch die an früherer Stelle erwähnten schichtspezifischen Relevanzstrukturen eine Rolle in den Entscheidungen der „traditionellen“ Freiwilligen. Das zentrale und bereits zitierte Argument der „Auslandserfahrung“ kann als Hinweis auf soziokulturelle Prägungen gesehen werden, da dieses nur im Rahmen der Interviews mit „traditionellen“ Freiwilligen erwähnt wurde und somit die Funktionalität des freiwilligen Jahres in höheren sozialen Milieus suggeriert. Die Befragten sprachen sehr selbstverständlich von dem Aspekt, ohne den konkreten Mehrwert einer Auslandserfahrung (in Abgrenzung zu einem internationalen Freiwilligendienst) zu erläutern.

Dennoch offenbaren sich durch dieses unbewusste und sehr einflussreiche Argument die Grenzen des rationalen Entscheidungsmodells. Das Bewusstsein für die Funktionalität des Freiwilligendienstes im sozialen und professionellen Kontext wird an dem Argument der beruflichen Verwertbarkeit, welches von beiden „traditionellen“ Freiwilligen aufgegriffen wird, deutlich. Insofern können sowohl bewusste als auch unbewusste Anteile der „Bedeutungs- und Relevanzstrukturen der Lebenswelt“ (Hillmert, 2010, S. 99) entdeckt werden.

Vor diesem Hintergrund kann die zweite Hypothese, welche die Art der Entscheidungsfindung betrifft, mit Einschränkungen bestätigt werden. Die Ergebnisse der Interviews suggerieren, dass die Entscheidungsfindung „nicht-traditioneller“ Freiwilligendienstleistender tendenziell nicht als rationale Wahl gerahmt werden kann. Stattdessen nutzen diese Freiwilligen sich bietende Gelegenheiten oder lassen sich von als ähnlich empfundenen Menschen zu Entscheidungen inspirieren, was von Hillmert (2010) als nachahmendes Verhalten bezeichnet wird (Hillmert, 2010, S. 100).

In den Entscheidungsprozessen der „traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden können vergleichsweise viele rationale Argumente gefunden werden, doch beide Fälle weisen darüber hinaus auf spezifische Bedeutungsstrukturen hin und können somit nicht ohne Eingrenzungen als rational beschrieben werden.

Vor diesem Hintergrund ist die Hinterfragung des Rational-Choice-Konzepts angemessen, da die Ergebnisse darauf hinweisen, dass Entscheidungen nicht nur rational getroffen werden und ein gewisser Anteil unbewussten Einflusses nicht ausgeschlossen werden kann.

Entscheidungsart und Motivation von individuellem Zugang zu Freiwilligendiensten abhängig

Durch die Erkenntnisse über die unterschiedlichen Entscheidungsarten können auch die Unterschiede der Motive nachvollzogen werden, da sowohl die Motive, als auch die Art der Entscheidungsfindung maßgeblich von dem individuellen Zugang zu Freiwilligendiensten beeinflusst werden. Insofern unterscheidet sich der Zugang zu Freiwilligendiensten in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft und der besuchten Schulform, wodurch sich infolge die Entscheidungsprozesse und gleichzeitig die Motive für die Teilnahme an einem internationalen Freiwilligendienst unterscheiden. Die Gestaltung des Zugangs und die vermuteten ungleichen Zugangsmöglichkeiten werden auch in der dritten Vorannahme thematisiert.

3. Hypothese: „Nicht-traditionelle“ Bewerber_innen müssen eher strukturelle Barrieren überwinden, um einen internationalen Freiwilligendienst zu leisten, als „traditionelle“ Bewerber_innen.

Im Kontext struktureller Hürden muss, so zeigen die Ergebnisse der Interviews, klar zwischen jungen Menschen aus bildungsferneren Schichten und jungen Menschen mit einem von „traditionellen“ Freiwilligen abweichenden Bildungsverlauf unterschieden werden.

Das Beispiel einer „nicht-traditionellen“ Freiwilligen deckt auf, dass Bewerber_innen aus sozial schwächeren Schichten durch die von Freiwilligendienstorganisationen verlangten finanziellen Eigenbeiträge stark benachteiligt sind. Die Tatsache, dass es nicht möglich ist, Unterstützung in Form von beispielsweise Stipendien zu erhalten, intensiviert die Benachteiligung.

Die Erzählungen von ihr verdeutlichen außerdem, dass sich das Wissen und die Erwartungen bezüglich der Kosten auf die Entscheidung für oder gegen eine Bewerbung auswirken, sodass die offensichtliche Benachteiligung auf einer weniger offensichtlichen Ebene bereits in der Bewerbungsphase eintritt:

„irgendwann dachte ich so, nee vielleicht sollte ich das lieber nicht machen, das kostet alles so Geld und vielleicht ist es dann besser, wenn ich gleich anfange zu studieren und ich dachte das ist alles viel zu kompliziert“ (B3, S. 10).

Diese Wirkung könnte ein Grund für die mangelnde soziale Heterogenität unter Bewerber_innen für Freiwilligendienste sein.

Doch erst nach der Bewerbungsphase treten schwerwiegendere Hürden in Form von finanziellen Leistungen, wie einem Eigenbeitrag und den Aufbau eines Patenkreises, auf:

„ich wusste von vornherein auch, dass das für mich schwierig wird oder sein könnte mit dem Solidaritätsbeitrag, aber ich hatte zunächst mal die Hoffnung, dass es vielleicht irgendwelche Förderprogramme gibt, die das unterstützen oder übernehmen“ (B3, S. 7),

„also zwischendurch (…) war ich dann schon so an einem Punkt, wo ich dann meinte, ich blas das alles ab, (…), es ist einfacher, wenn man es nicht macht, weil es ist dann einfach auch besser für meine Schwester und für meine Mama (…) und ich hab jetzt nicht diesen Druck, dass ich da jetzt dieses Geld da zahlen muss“ (B3, S. 10).

Trotz der Möglichkeit, über öffentliche Kommunikationswege Paten zu finden, stellt die Patensuche für „traditionelle“ Freiwillige mit vielen sozial ähnlich gestellten Kontakten weniger Aufwand dar, als für „nicht traditionelle“ Freiwilligendienstleistende. Es kann davon ausgegangen werden, dass Menschen aus bildungsnahen Milieus aufgrund ähnlicher Wertevorstellungen (Hillmert, 2010, S. 101) und sicherer finanzieller Lage eher dazu bereit sind, sich als Paten zur Verfügung zu stellen, als Menschen aus niedrigeren sozialen Milieus. In dem Zusammenhang kann erneut auf den differenten Stellenwert des Motivs „Auslandaufenthalt“ bei „traditionellen“ und „nicht-traditionellen“ Freiwilligen hingewiesen werden. Die unterschiedlich gewertete Wichtigkeit einer Auslandserfahrung kann im Lichte der Rational-Choice-Theorien und insbesondere Hillmerts Entscheidungstheorie der soziokulturellen Nähe (ebd., S. 99) auf den sozialen Hintergrund der jungem Menschen zurückgeführt werden. Es zeigt sich, dass die Werte und Motive der Freiwilligen von den Menschen in ihrem Umfeld mitgetragen werden und die Wahrscheinlichkeit der Bereitschaft, einen Freiwilligendienst zu unterstützen, dementsprechend variiert. Somit ist der Aufwand der Patensuche in gewissen Maßen von der sozialen Herkunft und den damit verbundenen sozialen Kontakten der Freiwilligen abhängig.

Auf junge Menschen, die ihren Freiwilligendienst nicht direkt nach dem Abitur absolvieren, sondern einen abweichenden Bildungsverlauf verfolgt haben, muss diese Benachteiligung nicht zwangsläufig zutreffen. Hier kommt allerdings eine Informationsbarriere ans Licht, da die Möglichkeit, einen Freiwilligendienst im Ausland zu leisten, vor allem an Gymnasien kommuniziert wird. Das fehlende Bewusstsein für Freiwilligendienstangebote zeigt sich nur bei Befragten, die andere Schulformen, als das Gymnasium besuchten:

„also ich hab eine Ausbildung gemacht zum Industriemechaniker und danach (…) ich wollte nicht gleich so in das Berufsleben einsteigen (…) danach war irgendwie gleich so für mich klar, ich will auf eine weiterführende Schule (…) aber gerade in diesen drei Jahren entwickelte sich dann auch so das Gefühl in ein anderes Land reisen zu wollen und dort auch ein Jahr lang zu leben“ (B2, S. 3).

Interviewpartner_innen, die ausschließlich das Gymnasium besuchten, waren bereits einige Jahre vor Beendigung des Abiturs über die Vielfalt an Möglichkeiten aufgeklärt:

„Freiwilligendienst, hab ich schon ganz früh von gehört, weiß ich nicht, da war ich glaub ich in der achten Klasse, da hab ich mir das schon immer ganz toll vorgestellt“ (B3, S. 1).

Somit ist eine große Wissens- und Bewusstseinsdistanz zwischen Schülerinnen und Schülern verschiedener weiterführender Schulformen erkennbar.

Wahrgenommene Distanz zu Freiwilligendiensten: Nicht-traditionelle Freiwillige

Neben dieser strukturellen Form der Benachteiligung, können in den Interviews der „nicht-traditionellen“ Freiwilligen Hinweise auf eine soziale Distanz und daraus resultierende Nachteile für Bewerber_innen aus anderen gesellschaftlichen Milieus gefunden werden. Zunächst zeigt sich diese anhand dessen, dass sich „nicht-traditionelle“ Freiwilligendienstleistende nur bei der Organisation bewerben, zu der sie einen persönlichen Zugang und in die sie Vertrauen haben. Eine dafür beispielhafte Aussage beinhaltet den als fern und unerreichbar empfundenen Freiwilligendienst, welcher erst durch die konkrete Begegnung mit Freiwilligendienstleistenden gedanklich nähergebracht wurde:

„wenn man dann andere Freiwillige kennenlernt, dann kann man sich das irgendwie viel besser vorstellen, das ist nicht so fern, also man hat nicht so das Gefühl, da werde ich nie hinkommen“ (B3, S. 6).

Dieses Gefühl der Distanz kann als Hinweis auf soziale Passungsschwierigkeiten gesehen werden, da diese Unsicherheit nicht in den anderen Interviews zu finden ist. Auch nachdem die Teilnahme bestätigt ist, werden Sorgen von „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden geäußert:

„ich hoffe einfach, dass ich mich wohlfühle und dass ich daraus letztendlich nur positive Sachen mitnehmen werde und dass ich später nicht sage, dass ich irgendwas davon jetzt bereue oder dass ich jetzt sage, hättest du das mal nicht gemacht“ (B3, S. 5).

Die dauerhafte, untergründige Unsicherheit könnte ein Ausdruck der sozialen Distanz zwischen „nicht-traditionellen“ Freiwilligen und der Zielgruppe des Freiwilligendienstprogramms sein. Um diese Frage untersuchen zu können, ist eine andere Art der Datenerhebung notwendig, welche auch das Verhalten der Organisation in den Blick nimmt. Darüber hinaus müssten weiterführende theoretische Grundlagen, wie beispielsweise die Habitustheorie Bourdieus (1987) berücksichtigt werden.

Insgesamt kann in Bezug auf die dritte Hypothese gesagt werden, dass Barrieren festgestellt werden können und potenzielle „nicht-traditionelle“ Freiwilligendienstleistende auf verschiedenen Wegen benachteiligen. Für junge Menschen aus sozial niedrigeren Schichten stellen die finanziellen Anforderungen der Freiwilligendienstorganisationen Hürden dar. Für junge Menschen, die nicht das Gymnasium besuchen, weisen hingegen fehlende Informationsflüsse auf Barrieren hin.

Reichweite der Ergebnisse

Zu der Generalisierung der vorliegenden Ergebnisse ist jedoch zu sagen, dass die Anzahl der Befragten vor dem Hintergrund der Differenzierung nach „traditionellen“ und „nicht-traditionellen“ sowie bezüglich sozialer Herkunft und Bildungsverlauf sehr gering ist. So sind die „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden aufgrund ihrer unterschiedlichen Hintergründe wenig vergleichbar. Zusätzlich sind die Ergebnisse von dem Umstand beeinflusst, dass die interviewten Personen ihren Freiwilligendienst teilweise bereits vor einigen Jahren absolviert haben, während andere befragte Freiwillige zum Zeitpunkt der Interviews noch vor dem Antritt ihres Auslandsjahres stehen. Somit muss die Analyse immer auch mit einer Sensibilität für die individuellen Verschiedenheiten der Interviewpartner_innen betrachtet werden und insbesondere die Aussagen bezogen auf den Einfluss der sozialen Herkunft und des Bildungsverlaufs müssen im Bewusstsein dessen aufgenommen werden, dass sich diese auf die Ergebnisse jeweils nur eines oder einer Befragten stützen. Insofern kann die sondierende Studie als hinweisgebend aufgefasst werden. Darüber hinaus ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die leitfragengestützten Interviews teilweise stark an dem Rational-Choice-Modell angelehnt sind und die Hypothesen vor der Datenerhebung aufgestellt wurden, sodass keine komplett unvoreingenommene Herangehensweise garantiert werden kann. Eventuell können die Fragen das Interview derart gesteuert haben, dass zu wenig Raum für Aspekte außerhalb der rationalen Entscheidungsrahmung blieb, außerdem können Interviewerin-Effekte nicht ausgeschlossen werden. Die Auswirkungen der Voreingenommenheit können sich, trotz großer Bemühungen um Reflexivität, eventuell auch in der Analyse wiederfinden.

Insgesamt können die drei Hypothesen verifiziert werden, wobei diese hinsichtlich ihres Differenzierungsgrades und infolge dessen auch ihrer Aussagekraft überarbeitungswürdig sind und die sondierende Studie eher als Anfang weitergehender Forschung betrachtet werden kann. So sollte besonders die zentrale Bedeutung des Zugangs zu Freiwilligendiensten für die Entscheidungsfindung bedacht werden.

Fazit

Abschließend kann festgestellt werden, dass es Unterschiede in der Entscheidungsfindung zwischen „traditionellen“ und „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden gibt. Diese Unterschiede lassen sich einerseits auf die finanziellen Hürden zurückführen, welche einen großen Teil der Benachteiligung ausmachen und besonders junge Menschen aus sozialschwächeren Familien den Weg zu einem internationalen Freiwilligendienst versperren. Andererseits lassen sich informationsbedingte Hürden feststellen, da das Wissen und Bewusstsein über Freiwilligendienstprogramme an den Besuch des Gymnasiums gebunden zu sein scheinen. Vor allem diese strukturellen Barrieren führen zur Benachteiligung von „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden. An den interviewten Beispielpersonen kann jedoch auch gezeigt werden, dass die Barrieren überwunden werden können und dass Gelegenheiten in Form von persönlichem Zugang zu Freiwilligen oder Freiwilligendienstorganisationen und die Unterstützung des Umfeldes rationale Entscheidungsmuster überwinden können.

In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu erfahren, inwiefern sich eine gesteigerte Informationsvermittlung und gezielt vermittelte Zugangsmöglichkeiten auf die Beteiligung junger Menschen mit geringeren Bildungsabschlüssen auswirken würde und nach Ursachen für die eventuell ausbleibenden Veränderungen zu suchen.

Bezüglich der Motivation für einen Freiwilligendienst zeigen die Ergebnisse, dass die Differenzen in Hinsicht auf den Zugang und den ersten Impuls zur Teilnahme an einem Freiwilligendienst in hohem Maße mit den genannten Motiven korrelieren. In Bezug auf die Motive sowie den Entscheidungsprozess spielt der individuelle Zugang eine bedeutende Rolle.

Ein klares Ergebnis kann in Bezug auf die Art der Entscheidungsfindung vermerkt werden, da in dieser Hinsicht zwei deutliche Tendenzen zu erkennen sind. So kann die Entscheidungsfindung der „traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden als rational charakterisiert werden, während die Entscheidung der „nicht-traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden eher auf Gelegenheitsstrukturen basieren. Trotz überwiegender Anzahl an rationalen Argumenten, kann der von den „traditionellen“ Freiwilligen geäußerte Wunsch nach einer Auslandserfahrung als Zeichen für schichtspezifische Bedeutungsstrukturen gesehen werden und würde gegen die Einstufung der Entscheidung als rationale Pro-Contra-Argumentation sprechen. Somit zeigen sich die Grenzen der Rational-Choice-Theorien in den Entscheidungsprozessen aller Befragten, wodurch Erweiterungen der Theorien zu Bildungsentscheidungen als unumgänglich hervortreten.

Eine noch offene Frage ist die gesellschaftliche Anerkennung von internationalen Freiwilligendiensten und welche Vorteile mit der Teilnahme an einem Freiwilligendienst auf formaler Ebene einhergehen. Unter der Prämisse, dass ein freiwilliges Jahr im Ausland wertvoll für die professionelle Laufbahn ist, kann die sozial homogene Zusammensetzung der Teilnehmenden separierende Auswirkungen haben. Vor diesem Hintergrund ist es sehr wichtig, dass jedem Menschen die Möglichkeit der Teilnahme an einem internationalen Freiwilligendienst offen steht. Die Ergebnisse der Erhebung weisen darauf hin, dass vor allem Bemühungen vonseiten der Freiwilligendienstorganisationen nötig sind, um dieser Zielsetzung näherzukommen. So könnten den momentan benachteiligten jungen Menschen in Form von sozial sensiblen Informations- und Möglichkeitsstrukturen einen Schritt entgegengekommen werden.

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Endnoten

iWeltwärts ist ein entwicklungspolitischer Freiwilligendienst des Bundesministeriums für wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), welcher 2007 von der verantwortlichen Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul ins Leben gerufen wurde, um es jungen Menschen zwischen 18 und 28 Jahren zu ermöglichen, sich mit finanzieller Unterstützung 6 bis 24 Monate in Ländern des globalen Südens ehrenamtlich zu engagieren.“ (Gritschke, 2011, S. 320)

ii Im Fragebogen wird zwar nach den Abschlüssen und beruflichen Situationen der Mutter und des Vaters gefragt, in einer Fußnote wird jedoch darauf hingewiesen, dass, trotz der konkreten Formulierungen, andere Familienformen keineswegs ignoriert oder diskriminiert werden sollen. Des Weiteren wird die Möglichkeit gegeben, die Fragen auf nicht leibliche Elternteile zu beziehen, falls diese eine prägendere Rolle eingenommen haben und einnehmen.

iii Aufgrund der notwendigen Bemühungen, „nicht-traditionelle“ Freiwilligendienstleistende als Interviewpartner_innen zu finden, kann davon ausgegangen werden, dass die vier Befragten, welche für die Datenerhebung dieser Arbeit zur Verfügung standen, keineswegs den Querschnitt aller Freiwilligendienstleistenden repräsentieren. Folgerichtig ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Ergebnisse jener Studie vergleichsweise eher von „traditionellen“ Freiwilligendienstleistenden geprägt sind.

Über die Autorinnen

Dr. Anja Franz: Dozentin, Lehrstuhl für Internationale und Interkulturelle Bildungsforschung, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (Deutschland); Forschungsschwerpunkte: Bildung und soziale Ungleichheit, Hochschulforschung. Kontakt: anja.franz@ovgu.de

Henrike Genzel, B.A.: Studium der Bildungswissenschaft und Psychologie, Otto-von-Guericke Universität Magdeburg (Deutschland), Forschungsschwerpunkt: Interkulturelle und Internationale Bildungsforschung, ehemalige Freiwilligendienstleistende. Kontakt: henrikegenzel@gmail.com

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