Martin Luther, die Juden, der Nationalsozialismus – Kritische Nachlese zum Reformationsjubiläum

By Hein Retter | December 18, 2017

Summary (Hein Retter: Martin Luther, the Jews, National Socialism – Critical review of the Reformation anniversary): The article informs and reflects on the results of two conferences in the context of the Reformation Jubilee, which dealt with Martin Luther’s relationship with the Jews. In the background is the question of the impact of Luther’s anti-Jewish hostility as the basis of legitimation for anti-Semitism from the 16th century until the genocide of Jews in Europe by National Socialism.
Keywords: Martin Luther, anti-Jewish hostility, anti-Semitism, historical-critical method, Holocaust

Zusammenfassung: Der Beitrag informiert und reflektiert über Ergebnisse zweier Tagungen im Rahmen des Reformationsjubiläums, die sich mit dem Verhältnis Martin Luthers zu den Juden beschäftigten. Im Hintergrund steht die Frage der Auswirkung der Judenfeindschaft Luthers als Legitimationsbasis für Antisemitismus ab dem 16. Jahrhundert bis zum Völkermord an den Juden in Europa durch den Nationalsozialismus.
Schlüsselbegriffe: Martin Luther, Judenfeindschaft, Antisemitismus, historisch-kritische Methode, Holocaust

Резюме (Hein Retter: Мартин Лютер, евреи, национал-социализм – Критическая подборка к юбилею Реформации): Статья информирует и размышляет над результатами двух конференций в рамках юбилея Реформации, которые занимались отношением Мартина Лютера к евреям. На заднем плане стоит вопрос влияния враждебности к евреям со стороны Мартина Лютера как законное обоснование для антисемитизма, начиная с 16-го века и до геноцида евреев в Европе со стороны национал-социализма.
Ключевые слова: Мартин Лютер, враждебность к евреям, антисемитизм, историко-критический метод, Холокост


1. Einleitung

Im Folgenden soll zum einen deutlich werden, dass die üblicherweise angewandte Methode, Luther und die Wirkungen der Reformation im Kontext der religiösen und sozialen Lebenszusammenhänge der Zeit darzustellen, dazu beitrug, die Frage der historischen Schuld Luthers und seiner Anhänger gegenüber dem Judentum allzu stark in den Hintergrund treten zu lassen. Zum anderen ist eine Betrachtung Luthers, die seinen Judenhass zum alleinigen Gesichtspunkt seiner historischen Bewertung auf dem Hintergrund des Holocaust macht, weder hinreichend für ein Gesamturteil, noch zur notwendigen Differenzierung komplexer Sachverhalte fähig.

Die Moral kann und will nicht differenzieren, also etwa Ebenen der Unterscheidung einführen, die dem „Verstehen” des Unrechts dienen. Ihr Urteil ist dichotom. Von der öffentlichen Diskussion in Anspruch genommen, tendiert die Moral zur zügigen Urteilsbildung mit bleibender Geltung, selbst wenn die Faktenlage mehrdeutig ist und nicht alle Sachverhalte in das Urteil eingegangen sind. Sie konzentriert sich jeweils nur auf das am stärksten herausfordernde Problem, das ihre Zuständigkeit verlangt. Pluralität der Sichtweisen, Meinungsvielfalt und Mehrdeutigkeit in Rechnung zu stellen, ist der Moral nicht möglich. Historische Forschung dagegen hat ständig damit zu tun. Der naheliegende Versuch, die judenfeindlichen Aussagen Luthers in den Zeitkontext zu stellen, das heißt, zum besseren Verständnis ähnliche judenfeindliche Aussagen anderer Theologen zu zitieren, wird von der Moral, die über Luther zu urteilen hat, nicht als sachlicher Einwand wahrgenommen, sondern als Versuch, Luthers späte Äußerungen über die Juden zu relativieren. Da wird man vergeblich den Judenhass des katholischen Theologen Johannes Eck (1486-1543) zitieren oder an die Judenfeindlichkeit der Kirchenväter erinnern – etwa an Melitos von Sardes’ Wort vom „Gottesmord“ der Juden, oder an Chrysostomos’ acht Reden gegen die Juden. Die Moral relativiert nicht. Abwägende historische Urteile tun dies jedoch ständig.

Die vorliegende Abhandlung untersteht der These, dass das Thema „Luther und die Juden“ eine dilemmatische Struktur besitzt. Für ein moralisches Urteil, das absolut ist, kann es kein vorurteilsfreies, sondern im Falle der Verfolgung und Vertreibung von Juden nur ein im Horizont vorhandener Schuld sich ausformendes Geschichtsbild geben. Das Urteil, Luther sei mit seinem Judenhass schuldig geworden gegenüber dem Judentum, ist schwerwiegend, es findet heute Beachtung in offiziellen Erklärungen der Evangelischen Kirche. Es ist ein moralisches Urteil, an dem es nichts zu deuteln gibt. Ein Urteil mit moralischem Anspruch gilt oder es gilt nicht. Im Gegensatz zum historischen Urteil lässt das moralische Urteil keine Relativierung, Differenzierung und auch keine Gegenargumentation zu. Beide Betrachtungsweisen, die historische wie die moralische, stehen in Spannung zueinander. Sie sind, so die These, bei der Bearbeitung des anstehenden Problems notwendig, verdeutlichen aber in jeweils anderer Weise ihre Grenzen. Die Grundsatzdifferenz zwischen moralischem und historischem Urteil als methodische Forderung zu beachten, gilt beim Thema „Martin Luther und die Juden“ ganz besonders. Von dieser Erkenntnis sind die nachfolgenden Ausführungen inspiriert.

Als Nachlese der Literatur-Review zum Thema „500 Jahre Reformation“ in dieser Zeitschrift (www.ide-journal.org/article/2017-volume-4-number-2-luther-und-die-reformation-erwagungen-und-kritik-im-spiegel-aktueller-literatur/) (auch: IDE-2017-full.pdf , S. 26-47) sei im Folgenden auf zwei wichtige Tagungen mit ihren Ergebnissen aufmerksam gemacht. Bei beiden ging es im Kern um das schuldbelastete Thema „Luther, der Protestantismus und die Juden“. Die beiden Konferenzen in Loccum und in Berlin fanden Anfang Oktober 2015 fast gleichzeitig statt. Dass die 12. Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) wenige Wochen später, vom 8. bis 11. November 2015 in Bremen, zusammentrat und sich mit demselben Thema beschäftigte, dürfte in der Abfolge der Termine kein Zufall gewesen sein.

Die Synode der evangelischen Kirche ist das amtlich gewählte, aus engagierten Laien und Geistlichen bestehende Kirchenparlament, dessen Aufgabe es ist, aktuelle Probleme zu beraten und dazu Beschlüsse zu fassen. Sie nimmt eine andere Aufgabe wahr als eine wissenschaftliche Tagung und betrifft einen anderen Personenkreis. Dennoch liegt für unsere Rückschau der Ereignisse der Grund für die zeitliche Nähe der Ereignisse auf der Hand. Das unbequeme Thema, das einen Schatten wirft auf das Reformationsjubiläum 2017, wurde im Herbst 2015 in Konferenzen historisch-wissenschaftlich, auf der Synode kirchenpolitisch zur Diskussion gebracht. Die EKD und die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Deutschland (VELKD) distanzierten sich in ihrer gemeinsamen „Bremer Erklärung“ vom 11. Oktober 2015 von judenfeindlichen Äußerungen Luthers und anderer Reformatoren; die Kirchen bekannten ihr schuldhaftes Versagen gegenüber dem jüdischen Volk, ihr über Jahrhunderte fortdauerndes negatives Verhalten, auf das man heute mit Trauer und Scham zurückblickt. Die Bremer Erklärung steht für einen neuen, äußerst selbstkritischen Ton evangelischer Kirchenleitungen. Das unterscheidet sie von der Erinnerungskultur früherer Luther-Jubiläen.

2. Die Loccumer Tagung

2.1 Ausgangslage und Zielsetzung

Die Loccumer Akademietagung (Evangelischer Pressedienst, 2016) stand im Zeichen der Kooperation von christlich-kirchlichen und jüdischen Organisationen. Neben den gehaltenen Fachvorträgen boten Arbeitsgemeinschaften den Teilnehmern die Möglichkeit, jenseits der Anhörung der Expertenreferate an themengebundenen Diskussionen mitzuwirken. Die Tagung war eine öffentliche Veranstaltung. Im Gegensatz dazu handelte es sich bei der Berliner Konferenz vom 5. bis 7. Oktober 2015 um eine internationale Expertentagung, die von Forschern – Theologen und Kirchenhistorikern – bestritten wurde. Der beim Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, erschienene Konferenzband mit seinen 23 Tagungsbeiträgen ist erst seit Mitte 2017 auf dem Büchermarkt (Wendebourg, Stegmann & Ohst, 2017).

Die Tagung der Evangelischen Akademie Loccum war ganz von der Absicht getragen, ein historisch ständig angewachsenes Schuldkonto des Protestantismus, zumal des Luthertums, gegenüber dem Judentum deutlich zu machen und begleichen zu wollen. Während der Tagung stand immer wieder die Frage im Raum: Wie konnte dies passieren, und wie können wir heute mit der in seinen späten Texten zum Ausdruck gebrachten Judenfeindschaft Luthers umgehen? Anders als zunächst von den Juden in Europa erhofftt, brachte die Reformation im 16. Jahrhundert keineswegs ihre Befreiung von den ihnen durch kirchliche und weltliche Herrschaft seit Jahrhunderten auferlegten Bürden. Religiöser Hass, Vertreibung und Einschränkung ihrer Existenzmöglichkeiten waren durch den reformatorischen Glauben nicht geringer geworden. Ebenso verblieben die Römische Kurie und maßgebliche katholische Theologen im 16. Jahrhundert bei ihrer harten Intoleranz gegenüber dem Judentum. In beiden großen Konfessionen führt heute die Einsicht in die theologischen Irrwege und die Inhumanität des Antijudaismus zu einer Sicht, die kirchliche Schuld nicht mehr zu verdrängen sucht. Luther und weitere Reformatoren boten nachfolgenden Epochen Anknüpfungspunkte für nationalistische, völkische und rassistische Verirrungen des deutschen Protestantismus – bis hin zum antisemitischen Deutschchristentum. Diese Einsicht prägte die Loccumer Tagung.

2.2. Peter von der Osten-Sacken: Kritisch-konstruktive Luther-Rezeption

Im Folgenden wird nur auf die für unser Anliegen wichtigsten Referate eingegangen. Peter von der Osten-Sacken, emeritierter Professor für Neues Testament und Christlich-Jüdische Studien an der Berliner Humboldt-Universität, stand mit seinem Referat über Aspekte einer kritisch-konstruktiven Lutherrezeption (Dokumentation, 2016, Heft 2, S. 4-18) für die begründete Hoffnung, dass der christlich-jüdische Dialog, der im Alltag von Kirchengemeinden in Deutschland seit langem viele gute Vorbilder hat, nun auch die letzten Winkel christlicher Verkündigung, biblischer Theologie und christlicher Kirchen erreicht.

Für manchen evangelischen Zirkel stellt sich nach der jüngsten Diskussion die Frage: Müssen wir denn „unseren Luther“ jetzt ganz aufgeben? Haben wir nicht schon genug getan, um mit uns in dieser schwierigen Frage ins Reine zu kommen? Die Tatsache, dass der Begriff „Judenmission“, der im deutschen Protestantismus nie in Frage gestellt wurde, erst mit der Magdeburger Jahrestagung von der Synode der EKD im November 2016 aus dem theologischen Vokabular gestrichen wurde, zeigt, dass nicht alles, was die eigene Heilsgewissheit an Demütigungen für Juden hervorbrachte, durch eine offizielle kirchliche Erklärung sofort aus der Welt zu schaffen ist. Protestantisches Überlegenheitsbewusstsein schuf ein Herabblicken auf jüdische Mitbürger, das, menschlich von vornherein unwürdig, ebenso theologisch unangemessen ist, wenn auch eine solche Haltung historisch resultierte aus der Konkurrenzsituation zweier aneinander gefesselter monotheistischer Religionen, die mit absolutem Wahrheitsanspruch für die eigene Doktrin zwei Jahrtausende keineswegs freundlich einander gegenüber standen.

Jede Bemühung, dem jüdisch-christlichen Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs die gemeinsame Basis zurückzugewinnen, wird schwierig durch die historisch durchaus spät erfolgte Erhebung der christlich-trinitarischen Auslegung zur alleingültigen Wahrheit. Die zur Zeit der jüdisch-christlichen Urgemeinde nicht vorhandene, sondern erst in rückwärtiger Interpretation zum Dogma erhobene trinitarische Gottesvorstellung steht für ein Dilemma. Für Normalchristen ist es kaum möglich, das Trinitätsdogma, dessen Konstituierung ein langer Dogmen- und Glaubenskonflikt vorausging, rational zu begreifen – wird doch behauptet, dass ein (eiziger) Gott nun in Gestalt dreier Personen existieren soll. Dass dieses Glaubenskonstrukt jeder extra-mentalen Realität entbehrt und allein in den Köpfen von Theologen verankert ist, kann man gewiss annehmen. Jedoch der Fromme, egal welcher christlichen Konfession er angehört, glaubt nun mal an die Dreifaltigkeit.

Für den gläubigen Juden ist es völlig unmöglich, an den von der Kirche gelehrten trinitarischen Gott zu glauben. Das wäre Gotteslästerung. Wenn also die Rede von „dem einen Gott“, zu dem Juden wie Christen beten, ernst genommen werden soll, sind die Kirchenleitungen genötigt, entweder das Trinitätsdogma in den Hintergrund treten zu lassen oder zuzugestehen, dass es mehr als nur eine einzige religiöse Wahrheit gibt; die Entscheidung darüber mag man dem Allerhöchsten selbst überlassen. Die Fähigkeit von Christen, jene Ursprungsreligion, aus welcher der eigene Glaube hevorging, in ihrem Anderssein anzuerkennen, ist durchaus noch entwicklungsfähig im Protestantismus, insbesonders bei Evangelikalen.

2.3 Kritische Anmerkungen zu den Referaten von Thomas Kaufmann und Micha Brumlik

Mit den Vorträgen des Göttinger Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann und des emeritierten Erziehungswissenschaftlers Micha Brumlik, Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, Berlin, war ein von der Loccumer Tagungsleitung gewollter Gegensatz geschaffen: Hier Kaufmann, derzeit der profilierteste deutsche Kirchenhistoriker zum Thema „Luther und die Juden“ auf protestantischer Seite, dort Brumlik, die wichtigste jüdische Stimme in Deutschland, die den Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart nicht müde wird, beim Namen zu nennen und dabei unbequeme Wahrheiten auszusprechen.

Kaufmanns Vortrag, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung“ (Dokumentation, 2016, Heft 1, S. 12-20), zog die historische Linie protestantischer Judenfeindschaft von Luther bis zum deutschchristlichen Bischof Martin Sasse, dessen Schrift über Luther und die Juden den Untertitel „Hinweg mit ihnen!“ nach dem reichsweiten Pogrom am 9./10.11.1938 erschien. Im Zentrum stand jenes Handlungsmotiv, das Luthers Verhältnis zu den Juden durchgängig bestimmt: Ihre (vergebliche) Bekehrung zum Christentum; andererseits misstraute Luther getauften Juden, sie würden ihr Judentum nicht ablegen (Kaufmann, 2006, S. 145). Die Erkenntnis Luthers, dass die Juden seinem Ansinnen nicht nachkommen wollten, verwandelte im Kontext weiterer Enttäuschungen die getäuschte Erwartung in unmenschliche Wut. Luther wollte 1543 den Juden jegliche Lebensgrundlage entziehen: Er bestitt ihr Recht auf ein normales Leben inmitten der Christenheit. An dieser Stelle ist Kaufmann den Thesen Micha Brumliks, sehr nahe, aber es wird auch deutlich, dass er sich entschieden abgrenzt von der Behauptung, Luther habe die industrielle Vernichtung des Judentums durch das Naziregime vorgedacht. Am Ende widerstand Kaufmann der Versuchung, einen unheilen Teil der Überzeugungen Luthers von heil gebliebenen Teilen abzutrennen, um letztere als zu bewahrendes Erbe hervorzuheben. Stattdessen rief er die Protestanten auf zum kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte.

Zu Micha Brumlik sei vorweg gesagt, dass ihm als ehemals langjährigem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in seinen Bemühungen um das jüdisch-christliche Gespräch hohe Wertschätzung zukommt; für seine Verdienste um den jüdisch-christlichen Dialog wurden ihm vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR) 2016 die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen.

Brumlik begann seinen Vortrag („Martin Luther und die Juden – eine politologische Betrachtung“; ebenda, Heft 1, S. 53-62), indem er Kaufmann und dessen Berliner Kollegin, Dorothea Wendebourg, in manchen ihrer Lutherdeutungen widersprach. Während für Brumlik klar ist, dass „der moderne, eliminatorische Antisemitismus in Luther einen seiner wichtigsten Zeugen gefunden hat“ (ebenda, S. 61), tendieren heute weder Kaufmann noch Wendebourg samt der Mehrheit deutscher Kirchenhistoriker dazu, Luther als „Antisemiten“ zu orten. Sie bleiben dabei, von religiös motiviertem „Antijudaismus“ zu sprechen. Sie sind ebenso bereit – wie die jüngste Diskussion zeigt –, den noch nicht allzu lange in Umlauf befindlichen Begriff „Judenfeindschaft“ für den späten Luther in Anwendung zu bringen, doch dies nicht ohne den Hinweis auf die den Juden wohlgesonnene Lutherschrift von 1523, „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“. Kaufmann spricht immerhin vom „vormodernen Antisemitismus“, den Luther seiner Zeit entnommen habe; anders als Brumlik lässt Kaufmann den Begriff „eliminatorischer Antisemitismus“ für Luther nicht gelten (Kaufmann, 2015, S. 10).

Besonderen Diskussionsstoff bietet der von Brumlik herangezogene direkte Vergleich zwischen Luther und dem Nazi-Gauleiter Julius Streicher, der im Kriegsverbrecherprozess 1947 seine antisemitische Hetze im NS-Regime als von Luther gerechtfertigt sehen wollte. Brumlik betont: Bis auf die Forderung massenweiser Ermordung der Juden habe Luther 1543 sämtliche Maßnahmen präsentiert, die Nationalsozialisten vor und nach Beginn des Zweiten Weltkrieges zur Exekutierung der auf ihrem Herrschaftsgebiet vorfindbaren Juden und Jüdinnen anwandten (Brumlik, Heft 1, S. 56). Gegenüber der primär religiösen Deutung der Judenfeindschaft Luthers durch Theologen will Brumlik den Wittenberger Reformator als politischen Denker deuten – in einer Reihe mit Macchiavelli und anderen Staats- und Machttheoretikern der Zeit.

Es sei hier mit der Lust am Widerspruch, die dem Kritischen Rationalismus Karl R. Poppers eigen ist, eine Gegenthese formuliert: Luthers politische und ökonomische Vernunft war weithin unterentwickelt, zum einen angesichts seiner apokalyptischen Erwartung, dass das Jüngste Gericht nahe sei, zum anderen angesichts der religiösen Dominanz seines Denkens. Die Vernunft als Erbe antiker Philosophie war ihm verhasst. Die heidnische Vernunft des Aristoteles wie die geheiligte Vernunft des Thomas von Aquin sah Luther als verderblich an, weil sie das Sündenbewusstsein aufhebt; das trennte den Reformator von den Humanisten. Gleichwohl führte Luther ungewollt die – nun „erleuchtete“ – Vernunft in der neuen Gestalt des christlichen Glaubens zu hohem Ansehen. Der Neuglaube erhielt eine einfache, von jedermann begreifbare rationale Struktur, die auf wesentliche irrationale Momente katholischer Gläubigkeit verzichtete (vom Marien- und Heiligenkult über das Fegefeuer bis hin zu Messopfer und Transsubstantiationslehre). Es blieben noch genug böse Kräfte übrig, an die Luther glaubte – wie Hexen, Dämonen, Teufel. Ein Exkurs zu dem Gesagten sei gestattet.

Als junger Augistinermönch wurde Luther umgetrieben von Angst vor dem Zorn Gottes über ihn, den Sünder, dessen Schicksal nur die ewige Verdammnis sein konnte. Die Befreiung von dieser Qual lag in drei Einsichten, die den Kern der Lutherschen Theologie bilden. Erstens: Du darfst die Zuversicht haben, dass Gott dir alles schenkt, was du für dein Seelenheil brauchst, selbst der Glaube ist ein Geschenk Gottes. Zweitens: Du stehst allein vor Gott, keine Papstkirche steht zwischen euch, du selbst bist Kirche mit deiner Gemeinde. Drittens: Versuche, als Sünder der du lebenslang bleibst, ein gottgefälliges Leben zu führen – im Vertrauen auf Gottes Gnade hinsichtlich der Hoffnung, in der Ewigkeit „zur Rechten Gottes“ Platz nehmen zu dürfen und nicht ins ewige Feuer geworfen zu werden.

Daraus folgt: Die Geldgeschäfte, die die Kirche mit der Werk- und Wundergläubigkeit der Menschen trieb, entfielen im Protestantismus. Ein Leben wird durch Arbeit und Lopreis möglich, um der Schöpfung Gottes zu dienen. Dieser Gedanke gab dem protestantischen Wirtschaftsleben neue Impulse. Der reformierte Glaube stärkte Bürgerlichkeit. Das Moment der Unsicherheit, tatsächlich der Gnade Gottes teilhaftig zu sein, gab einer Werte schaffenden Mentaltät Raum, die mit einem in religiöser Strenge und Bescheidenheit geführten Leben sowie mit sozialem Engagement verknüpft wurde. Der Gedanke, dass jeder Christ die Bibel lesen und verstehen muss, gab für das bis dahin ungebildete Volk Bildungsaspiration frei, auch für das weibliche Geschlecht – ein quasi-demokratischer Aspekt der Reformation, der vermutlich sehr viel stärker für die positive ökonomische Entwicklung protestantischer Territorien eine Rolle spielte, als die calivinische Ethik – wie dies Max Weber in seiner berühmten These über den Geist des Kapitalismus 1904/05 behauptete. Die Voraussetzung für den Bildungsschub schuf Luther mit der Übersetzung der Bibel – eines Demokratisierungsvorganges erster Güte. Mit der in Wort und Schrift erfolgenden Aneignung der biblischen Wahrheit in der Muttersprache durch das Volk war der erste Schritt getan, dass spätere Generationen sie gegebenenfalls auch kritisch gegen die offizielle kirchliche Auslegung interpretieren konnten, um ein eigenes Verständnis der Welt zu gewinnen.

Die große politische Leistung des Protestantismus, den Menschen von der geistigen Kontrolle durch die Kirche befreit zu haben zugunsten größerer individueller Selbstverantwortung und Selbstgestaltung kam endgültig zum Durchbruch im Zeitalter der Aufklärung: Wesentliche Voraussetzung dafür bildete der allgemeine Zugang zum Wort Gottes für die Menschen aller Stände und Sprachen. Obwohl es bereits einzelne Bibelübersetzungen vor Luther gab, setzte mit seiner (und Helfern) geschaffenen, sprachlich eingängigen, doch hinreichend genauen Übersetzung ein neues Zeitalter ein für die quellenkritische Übertragung der Heiligen Schrift in die einzelnen Landessprachen. Die in reformatorischem Geist vollzogene Abschaffung des tradierten religiösen Wunderglaubens stärkte die vernunftgeleitete Welterkenntnis. Nicht zuletzt bedeutete die Ersetzung der unbiblischen katholischen Beichtpraxis durch ein gemeinsam gesprochenes Schuldbekenntnis beim Abendmahl das Ende institutioneller Überwachung jedes Gläubigen bis in die geheimsten Gedankenregungen. Die Teilhabe am Leib des für die Menschheit gestorbenen Erlösers erwirkt die Gnade der Vergebung. Anstelle des Systems kirchlicher Machtausübung durch Sündenfreisprechung trat die dem einzelnen Gläubigen zur Pflicht gemachten Selbstprüfung des Gewissens. Die durch sittliches Gebot bestimmte, selbst verantwortete Moral auf der Grundlage biblischer Ethik erhielt eine Leitfunktion in der individuellen Lebensführung, wohingegen kirchlich-institutionelle Dogmen an Einfluss verloren. Damit waren dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Handeln neue Gestaltungsräume erschlossen, deren Erwartungshorizonte nicht mehr nur von den großen Mächten, sondern sehr viel stärker als zuvor von den Leistungen der Individuen und ihren Glaubensgemeinschaften in der bürgerlichen Gesellschaft geformt wurden.

Luthers Theologie hatte Konsequenzen, die weder von ihm bedacht noch gewollt waren. Sie markieren eine deutliche politische Schwachstelle seines Denkens: Erstens wollte Luther nicht Begründer einer neuen eigenständigen Kirche sein. Er wollte die Missstände der bestehenden Kirche beseitigen, doch schon in seiner Kritik an unbiblischen Traditionen der Kirche wurde klar, dass „Reformation“ nur als Rebellion gegen die bestehende Kirche möglich war, eine Rebellion, die zudem eine kaum zu bändigende Dynamik entwickelte. So führte die Erneuerung des Glaubens durch Konzentration auf das Wesentliche – Sola fide, sola gratia, sola scriptura, solus Christus – bei Luthers Anhängern zu signifikant unterschiedlichen Interpretationen. Eine höher stehende verbindliche Lehrinstanz, die die Glaubenswahrheiten festlegt, gab und gibt es nicht im Protestantismus.

Wiederum verbarg sich in diesem vermeintlichen Manko ein modernes, basisdemokratisches Moment, nämlich Vielfalt, die auf Einigungsfähigkeit bzw. das Setzen von Rahmenbedingungen angewiesen ist, um ein friedliches Neben- und Miteinanderleben zu ermöglichen (Kaufmann, 2006). Erstere, Vielfalt, produzierte der evangelische Glaube fortlaufend, während letztere – Einigungsfähigkeit – Luther und vielen seiner Anhänger fehlte. Ständig gab es Streit unter den Theologen Kursachsens (und anderswo), der erst recht nach Luthers Tod 1546 zwischen „Gnesiolutheranern“ und „Adiaphoristen“ tobte; letztere bezogen sich auf Melanchthons (eher vermittelnde) Position. Die institutionelle Schwäche des Protestantismus zeigt bis heute zwei Extreme: Hier die Tendenz zu Rationalität, Aufklärung, Verweltlichung, gekoppelt mit sozialer Elitebildung; dort der Zug zum sektiererischen evangelikalen Fundamentalismus, zur Mystik und zum tiefen Ergriffensein von der eigenen Sündhaftigkeit. Dieser Befund wiederum sollte nicht dazu führen, die Bedeutung des europäischen Protestantismus im 16. und 17. Jahrhundert in seiner Dynamik und Vielgestaltigkeit für die Ausbildung der modernen Demokratie zu unterschätzen.

Sicher war Luther kein Demokrat im heutigen Sinn und blieb abhängig vom Wohlwollen seines Landesherrn (der in seiner Regierungszeit nicht „Lutheraner“ wurde). Luther folgte ganz dem paulinischen Gebot der Unterordnung unter die Obrigkeit. Aber man sollte doch sehen, dass in Luthers „Leisniger Kastenordnung“ von 1523 das erste Dokument zur Selbstverwaltung der autonom agierenden evangelischen Gemeinde geschaffen wurde, die ihre Geistlichkeit, das Bildungswesen, die Versorgung der armen, alten und kranken Menschen durch Einrichtung einer finanziellen Abgabe in den „Kasten“ der Gemeinde sichern sollte, auch wenn bald klar wurde, dass die christliche Freiheit in dieser Form politisch undurchsetzbar blieb.

Erst als man im kursächsischen Ort Leisnig nicht bereit war, die sozialpolitisch radikalen Vorschläge Luthers zu übernehmen und vor allem der Adel Widerstand gegenüber den Reformplänen leistete, rief Luther die Obrigkeit zu Hilfe – beim Aufbau des Bildungswesens, der darniederliegenden Kirchengemeinden und bei der Neuregelung aller durch die Reformation zerstörten, zuvor von der katholischen Kirche getragenen Strukturen. Man hat dabei auch zu berücksichtigen, dass die Bereitschaft weltlicher Obrigkeit, in kirchliche Angelegenheit einzugreifen, schon lange vorhanden war und Luthers Reformation in der Wendung zum Stadt- und Landeskirchentum im Zeitalter aufstrebender weltlicher Partikularmächte diese Entwicklung nur fortsetzte (Schorn-Schütte, 2011, S. 73).

Der institutionelle Widerspruch im Luthertum liegt darin, dass die Entwicklung zur vertikal strukturierten Staatskirche die horizontal („demokratisch“) ausgerichtete Idee des ‘allgemeinen Priestertums der Gläubigen’ deformierte; in den Gemeinden der Schweizer Reformatoren war dies so nicht der Fall. Dass Luther 1525 die aufständischen Bauern an die Fürsten zum Abschlachten preisgab, kritisiert Brumlik völlig zu Recht, wie diese Kritik von Kirchenhistorikern ebenso ausgesprochen wird: Dieser unmenschliche Zornesausbruch, man möge die Aufständischen „erschlagen, würgen, stechen“! Und genau dies war dann auch ihr Schicksal. Hier erfüllten die Fürsten Luthers Weisung grausam, obwohl sie dabei gar nicht auf Luther gehört hatten, sondern nur das vollbrachten, was sie sowieso getan hätten. Die Frage ist: Folgten 1543 reichsweit die Fürsten lutherischer Territorien der Aufforderung des Reformators, die Existenz der Juden zu vernichten? Keineswegs! Ein Pogrom nach dem Aufruf Luthers, die Wohnungen und Synagogen der Juden anzuzünden, gab es nicht. Es war jetzt – 1543 – gegenüber 1525 eine andere Situation, es lagen andere Beweggründe vor, und eine andere soziale Gemeinschaft war angesprochen.

Der durch Karlstadt in Wittenberg ausgelöste Bildersturm während Luthers Wartburg-Aufenthaltes und die Aufrufe des Visionärs Thomas Müntzer, sich gegen die Fürsen zu erheben, standen Luther vor Augen, als er sich gegen die aufständischen Bauern wandte. Zu diesem Zeitpunkt war die Gefahr real, dass die Reformation im Zusammenbruch kirchlicher und weltlicher Ordnung ihr Ende findet. Und in der Tat zeigte sich die politische Schwäche des neuen Glaubens schon in seiner Frühphase: Die evangelische Freiheit führte nach dem Reichstag zu Worms 1521 bald zur Abspaltung wie zur völligen Neugründung von Glaubensgruppen, die Luther vergeblich bekämpfte: Thomas Münzer, Zwingli, die Wiedertäuferbewegung und schließlich Jan van Leiden mit dem „Täuferreich“ in Münster, das 1535 ein martialisches Ende fand. Sie alle vertraten eigene Standpunkte im neuen Glauben und blieben von Luther getrennt. Das hatte fatale politische Konsequenzen. Der christliche Neuglaube im Westen Europas sorgte für Ungleichgewichte der politischen Balancen, war ein Pulverfass, das im Gemetzel der Barholomäusnacht 1572 in Paris nur den Anfang einer Kette von Explosionen bildete, die die Glaubenskriege und -verfolgungen des 17. Jahrhunderts antrieben. Der Toleranzgedanke, den der Kirchenfürst Nikolaus von Kues (1401-1464) in seiner Schrift „De pace fidei“ von 1553 ganz unter dem Dach der katholischen Kirche verstand, musste im 17. jahrhundert noch einmal neu durchdacht werden, und er wurde nicht von den Mächtigen, sondern von einzelnen in Distanz zur Macht stehenden Denkern entwickelt, wie Spinoza, Bayle, Locke.

Luther, der als Betroffener Ketzerverfolgungen durch die Inquisition ablehnte, war kaum tolerant, falls seine eigenen Überzeugungen in Gefahr waren, keine Akzeptanz zu finden. Wenn er Gewissensfreiheit vom Kaiser für seinen Glauben auf dem Wormser Reichstag forderte, dann hatte er keinerlei Verständnis, dass religiös Andersdenkende ein eigenes Gewissen besaßen und ein Recht dazu hatten. Dieser Gesichtspunkt kommt in Lutherbiographien protestantischer Theologen manchmal zu kurz, die Luthers „Hier stehe ich…“ als den Ausgangspunkt der modernen Gewissensfreiheit feiern. In der Auseinandersetzung mit Erasmus um die Willensfreiheit wird die Enge des religiösen Denkens bei Luther sichtbar. Da kann man in der Tat fragen: Ist Luther mit seinem Standpunkt, dass der Mensch in Glaubenssachen keine eigene Freiheit besitzt, nicht weit zurückgefallen hinter Erasmus in Bezug auf die Freiheit des Vernunftgebrauchs?

Die Frage macht die religiöse Parallele zur politischen Überlegung Brumliks deutlich, ob nicht freiheitliches, auf Rechtssicherheit beruhendes Denken zurückgeworfen wurde durch Luther und die Reformation in eine bereits überwunden geglaubte Zeit rechtlicher Unsicherheit und Unfreiheit – zu Lasten der Juden. Doch hier scheint mir Skepsis angebracht. Denn diese Vorstellung setzt eine kontinuierliche historische Linie des Fortschritts voraus, deren Nachweis kaum gelingen dürfte. Je nachdem, welche Voraussetzungen in die These eingehen, können die Antworten sehr unterschiedlich ausfallen.

Brumlik macht bei Luther herrschaftsheischende, frühnationalistische Züge aus. Durch sie sei die in manchen Städten und Territorien Europas schon vorhandene, dem Judentum gewährte Liberalität, so Brumliks Überzeugung, wieder zurückgenommen worden. Doch eine Diskussion dieser These, die sich angesichts der komplexen Sach- und Rechtslage im Sacrum Imperium Romanum kritischen Einwänden stellen müsste, hatte Brumlik nicht im Sinn. Sie wird jedoch unvermeidlich, wenn Historiker Aussagen schon lange zuvor formuliert hatten, die kaum als Bestätigung der Sicht Brumliks gelten können – wie die folgende:

Die „Behauptung, es gäbe eine über Luther vermittelte Kontinuität der älteren Judenfeindschaft bis zum Modernen Antisemitismus, ist widerlegt“ (Battenberg, 2001, S. 83).

Zahlreiche Berichte weisen aus, dass der 1495 verkündete „ewige Landfrieden“, der Fehden beenden sollte, und den Brumlik als Beleg für eine gewisse Rechtssicherheit der Juden anführt, unter Kaiser Maximilian I. immer wieder durchbrochen wurde; waren Juden betroffen, blieb dies zumeist rechtlich folgenlos. Anders gesagt: Wenn man sich an Juden ohne rechtliches Risiko bereichern konnte, geschah dies auch (Preisendörfer, 2017, S. 240f.).

Jüdisches Leben in der christlichen Mehrheitsgesellschaft des europäischen Mittelalters war von Abhängigkeit bestimmt. Zeitweise eröffneten die territorialen politischen Konstellationen eine gewisse Freiheit, die aber mit dem ausgehenden Mittelalter, regional unterschiedlich, immer stärkeren Einschränkungen unterlag. Angesiedelt auf der untersten Stufe sozialer Wertschätzung kann man ab dem 15. Jahrhundert jüdisches Leben ganz in Abhängigkeit von einer als äußerst „fragil“ zu sehenden Toleranz“ sehen (Kirst, 2017, S. 23). Die juristische Gewährung von dieser Art von „Toleranz“ – einer sehr eingeschränkten religiösen Duldung unter Absprechung von Freiheit – die kirchliches und weltliches Recht theoretisch gewährte, wurde in der Praxis immer wieder von schreiendem Unrecht gegenüber den Juden durchbrochen. Mit dem Einsetzen der Inquisition war kirchliches Recht zu einem Instrument geworden, auch gegen die Juden vorzugehen; das betraf insbesondere Marranen und sephardische Juden.

Eine gewisse, unsichere Freiheit für Juden – ohne erwartete Gegenleistung – wurde im Zeitalter von Reformation und Glaubenskriegen allenfalls durch ein zufällig etwas humaneres Herrschernaturell möglich. Sie ergab sich in Landstrichen geringerer herrschaftlicher Kontrolle (dann aber auch für andere religiös Verfolgte) – wie in der polnischen Adelsrepublik, dort vor allem nach dem Toleranzedikt 1573. Sie galt für die dezentralen Herrschaftsformen der Niederlande im 17. Jahrhundert. Dort aber, wo manchen Juden Schutzbriefe von fürstlicher Zentralgewalt ausgestellt wurden, waren in der Zeit des Frühkapitalismus mit dessen immensem Finanzbedarf immer wirtschaftliche Erwägungen im Spiel: Nichts wurde Juden gestattet ohne ökonomische Nutzenerwartung. Gerade diese Praxis aber war Luther ein Dorn im Auge.

Der Wittenberger Reformator begab sich keineswegs nur in die politische und ökonomische Abhängkeit weltlicher Herrschaft. Luther war das Finanzgebaren weltlicher wie kirchlicher Mächte unerträglich, und er zeigte aus religiöser Überzeugung Kante gegenüber seinem Fürsten. Die Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen hatte 1521 ihre letzte Heiltumsweisung – jene alljährlich zu Allerheiligen stattfindende, spendenwillige Pilger aus Nah und Fern anziehende Ausstellung von heiligen Preziosen, denen Wunderwirkungen zugesprochen wurden (darunter die Verkürzung des Fegefeuers).

Luther verwünschte diesen Reliquienkult – der allerdings Geld brachte. Auf sein Drängen hin wurde die Reliquiensammlung schließlich von Friedrichs Bruder und Nachfolger im Amt, Johann dem Beständigen, 1526 aufgelöst. Kein Wunderglaube, kein Geld, das die Kassen füllte! Luthers Betrachtungen zum weltlichen Tun des Christen waren alles andere als Bausteine für eine motivierende, von politisch-ökonomischer Vernunft geleitete Handlungstheorie. Sie fungierten als bloße Rechtfertigung dafür, dass weltliche Ordnung, Bestrafung des Bösen und Arbeit zur Existenzsicherung sein dürfen, wenn sie die Schöpfung erhalten und Gott wohlgefällig bleiben.

Abgesehen von der Einziehung des katholischen Kirchengutes auf protestantischem Boden (die offenbar Gott wohlgefällig war!), brachte die Reformation für Staat und Stadt angesichts der Zerstörung der alten Strukturen beträchtliche finanzielle Lasten. Luthers religiös motivierte politische und ökonomische Unvernunft führte dazu, dass er ganze Wirtschaftszweige aufs Spiel setzte. Pilgerreisen, die Luther abschaffte, bedeuteten das Ende der Wirtschaftsförderung in struktuschwachen Gebieten. Reliquienverehrung, Wallfahrten, Ablass, Heiligenkult, Messenlesen für Verstorbene – alles das, was auf vielerlei Wegen zu Geld gemacht werden konnte, fiel weg im Protestantismus. Auch das Stiftungswesen war zusammengebrochen. Neue Kosten kamen auf das Gemeinwesen hinzu. Die Pfarren lagen darnieder. Die reformierte Geistlichkeit konnte sich nicht mehr durch gute Pfründen und bezahlte Messen ihr Brot verdienen. Sie musste anderweitig gesichert werden. Das Gute des Schlechten war: Die Zahl der Geistlichen schrumpfte. Doch die Gemeinden hatten nun ganz für sie aufzukommen. Die finanziellen Verpflichtungen wurden für Staat und Städte größer, nicht kleiner, obwohl die Naturalienwirtschaft zur Existenzsicherung des evangelischen Pfarrhauses eine zentrale Bedeutung besaß. Alle Berufszweige, die von der Wundergläubigkeit des Volkes und den Aufträgen der Kirche lebten, Handwerker und Kunsthandwerker, hatten auf reformatorischem Gebiet bedeutende Einnahmenverluste.

Eine wichtige Ausnahme bildeten die Kirchenmusiker, auch wenn deren Einnahmequellen bescheiden blieben. Die Kirchenmusik hatte im 16. Jahrhundert einen ungeahnten Höhepunkt erreicht. Alle ästhetische Pracht war den Schweizer Reformatoren ein Dorn im Auge. Anders als bei Luther stand in den Gottesdiensten reformierter Gemeinden in der Schweiz wie auch im Puritanismus in England und Amerika nur das gesprochene Wort im Mittelpunkt. Hier büßte die Kirchenmusik ihre Bedeutung ein. Nicht so bei Luther. Er konnte, entsprechend seiner guter musikalischen Bildung, die Laute spielen. Als „fahrender Schüler“, hatte er in Magedburg und in Eisenach mit Mitschülern in der Kurrende „um Brot“ gesungen und soll auch später „ein leidenschaftlicher Sänger“ gewesen sein (Claussen, 2014, S. 78; Ströbel, 2017).

Als Reformator kompensierte Luther seine ungeheure Angst vor göttlichem Zorn durch Gesang. Denn das gleichsam basisdemokratisch im einstimmigen Gemeindelied erzeugte Gotteslob, an dem die Frauen gleichberechtigt teilnehmen, besiegt Angstzustände. Für Luther war der Choral Ausdruck des Dankes, die erlösende Antwort auf die ihn umtreibende Frage erhalten zu haben: Was muss ich tun, um vor Gott gerecht zu sein? Die Antwort lautet: Du musst keine guten Werke tun aus Angst um dein Seelenheil! Gottes Gnade schenkt dir die Seeligkeit. Welche Erleichterung! Wenn die Angst weg ist, fängt man zu singen an! Singen in Gemeinschaft vermittelt emotionale Sicherheit, erzeugt Identitätsbewusstsein und stärkt den Glauben. Nebenbei gesagt: Es ist egal, ob die einen „Großer Gott, wir loben dich“ singen oder ganz anders gestimmte, etwa sozialistische Gruppen „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ erklingen lassen. Jedenfalls gehörte die Stärkung des Glaubens durch gemeinsame emotionale Erfahrung zu den seltenen „politischen“ Einsichten,, denen Luthers ansonsten oft zum Irrtum führender Starrsinn nichts anhaben konnte.

Die Folgen der Reformation standen politisch zum Teil völlig quer zu dem, was Luthers religiöse Sicht wollte. Die Reformation setzte eine neue politische und ökonomische Dynamik frei, deshalb hat man die – tatsächlich eher schwachen – rechtlichen Auswirkungen von Luthers Judenhass auf nachfolgende Jahrzehnte genau zu prüfen. Es gab durch Luther mitbewirkte lokal-territoriale Durchzugsverbote, es gab Vertreibungsaktionen (Battenberg, 2001; Kaufmann, 2015, S. 30) – vor und nach 1543. Bedenkt man, dass Kurfürst Johann Friedrich schon 1536 auf Grund Luthers Empfehlung ein Durchzugsverbot für Juden erließ, dann war das nur eine Fortsetzung dessen, was ohne die Lutherschen Spätschriften ebenfalls hätte geschehen können. Vor allen Dingen waren nicht alle Reformatoren Luthers Ansicht; Melanchthon, Osiander und der Schweizer Heinrich Bullinger vertraten andere, im Ganzen durchaus freundliche bis gemäßigte Doktrinen (Detmers, 2005). Martin Bucer und der von ihm beinflusste Johannes Calvin blieben demgegenüber dem Judentum reserviert bis feindlich gesinnt. Aber indem man eine solche Aussage niederschreibt und sich auf einzelne Studien beruft, ist zugleich klar, wie wenig man dabei der Komplexität der damaligen Verhältnisse und der Forschungslage gerecht wird (Battenberg, 2001, S. 59-131).

Brumlik stellt heraus, dass Luther 1536 die Tötung von Wiedertäufern aus Gesinnungsgründen befürwortete (Heft 1, S. 55), aber ihre Vernichtung war schon im Wiedertäufermandat von 1529 beschlossene Sache und Reichsgesetz. Mit der Verbrennung von sechs Wiedertäufern Anfang 1530 im kursächsischen Reinhardsbrunn wurde diese Unmenschlichkeit auch auf lutherischem Boden praktiziert. Das Gesetz hatte nicht zuletzt politische Gründe, denen jedoch Gesinnungsgründe vorangingen – getragen vom Interesse kirchlicher wie weltlicher Macht. Erheblichen Diskussionsstoff für Gegenargumente bietet vor allem die These Brumliks, dass Luthers extreme Wendung gegen die Juden 1543 primär politischen und ökonomischen Motiven folgte (ebenda, S. 55). Davon wird am Schluss noch die Rede sein.

Brumliks These betrifft die Rechtsstellung der Juden im frühen Luthertum. Die naheliegende Frage, ob Luthers „Empfehlungen“ von 1543, wie sie Brumlik selbst nochmals zitiert – die Juden zu vertreiben, ihre Synagogen abzufackeln, ihre Häuser zu zerstören –, in nachfolgenden Jahrzehnten auf protestantischen Territiorien in geltendes Recht umgesetzt wurden, wird von ihm nicht beantwortet. Dass die Frage – offenbar – zu verneinen ist, hätte gesagt und der Sachgrund eruiert werden sollen. Es war politisch einfach Unsinn, was Luther von sich gab. Luthers religiöse Starrheit (die matte Rückseite seiner evangelischen Freiheit) gefährdete letztlich die soziale Ordnung. Offenbar besaßen die Fürsten am Judentum als Wirtschaftsfaktor ein zu großes Interesse, als dass sie Luther folgten. Aber das war wohl nicht der einzige Grund.

Nach Luthers Tod (1546) befand sich der lutherische Protestantismus in der Klemme. Der verlorene Schmalkaldische Krieg 1547 zeigte, wie dünn die politische Machtbasis für die Anhänger der Reformation geworden war. Luthers Witwe floh mit den Kindern und der Famlie Melanchthon aus dem besetzten Wittenberg. Erst nach Monaten konnte man zurückkehren (Scheible, 2010, S. 387ff). Wiederum waren es unvorhersehbare Entwicklungen in Europa im Mächtedreieick zwischen Kaiser, Papst und den Reichsfürsten, in Bewegung gehalten durch die „Türkengefahr“, die dem neuen Glauben nützten. Aus dem Kampf gegeneinander stehender Großmächte resultierend, konnten die protestantischen Partikularmächte dank verschiedener historischer Konstellationen ihre Position festigen. Juden und Glaubensflüchtlinge waren nach dem Dreißigjährigen Krieg in Mitteleuropa willkommen beim Aufbau der Zerstörungen.

Dass Luthers späte Judenschriften langfristig eine unheilvolle Wirkung besaßen und im Antisemitismus späterer Jahrhunderte als authentische, vom Reformator inaugurierte Wahrheit eine Rolle spielten, dürfte heute wohl niemand bestreiten, selbst wenn Luthers Sicht nicht die eigentliche Quelle für den rassistischen Antisemitismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bildete. Nur wird von primär moralisch argumentierenden Lutherkritikern angesichts ihrer Scharfstellung des Fokus eine Enge der Betrachtung erzeugt, die andere – gegenteilige – Sachverhalte ausblendet.

Die Reformation schwächte das Judentum in Europa nicht, im Gegenteil: „Zur selben Zeit stärkten die Juden ihr Selbstbewusstsein“ (Volkow, 1992, S. 90). Spinozas Pantheismus gewann ab dem 17. Jahrhundert einen anhaltenden Einfluss auf die Religionskritik der Aufklärung im Judentum und noch stärker in liberalen protestantischen Kreisen. Wie der Deismus der Aufklärung war auch der Pantheismus eine kirchliche Dogmen herausfordernde Vorstellung, ein Angriff auf die kirchliche Sünden- und Ewigkeitslehre. Spinozas Lehre förderte den Gedanken der „natürlichen“ Religion. Luthers Schroffheiten, auch die seiner Judenschriften, verblassten. Um ihre Wirkung in späterer Zeit angemessen einzuschätzen, muss man sie im Gesamtzusammenhang der Dynamik sehen, die von protestantischen Regionalkulturen des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa ausgingen.

Im Zeitalter der Aufklärung und der Romantik wurde das geistige Erbe Luthers vom Protestantismus der Zeit auf eine neue Ebene transformiert. Religiöses Kritikbedürfnis und Ironie als Stilmittel dieser Kritik, erwachten (Benedict, 2016). Jüdische Gelehrte wussten im Zeitalter der Aufklärung Luthers Bekenntnis zu Worms 1521, „Hier stehe ich…“ zu schätzen und für eigene Anliegen zu nutzen. Das Judentum der Zeit Lessings präferierte den Luther von 1523; die späten Judenschriften von 1543 spielten kaum eine Rolle.

Von dem sowohl ironischen als auch selbstironischen Heinrich Heine stammt die Abhandlung „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, in welcher er Moses Mendelssohn (1729-1786), den bedeutenden jüdischen Philosophen der Aufklärungepoche, mit Luther verglich: Wie Luther vom Katholizismus zur Bibel zurückkehrte, habe Mendelssohn vom Judentum seiner Zeit die Rückkehr vom Talmud zur Tora gefordert. Für Heine ist „Luther nicht bloß der größte, sondern auch der deutscheste Mann unserer Geschichte“ (Heine, 1835, S. 8), freilich immer im Ton der freundlichen Ironisierung des Gesagten. Der israelische Historiker Amos Funkenstein (1937-1995) sprach von wechselseitiger Abstoßung und Faszination als typisch für die gemeinsame Geschichte von Juden- und Christenum. Die Reformation habe eine Wende in dieser Beziehung gebracht, doch Luthers Judenhass spiele dabei eher eine Nebenrolle. Über ihn urteilte er:

„Diese Haßtiraden waren zwar von beträchtlicher Nachwirkung, enthielten aber wenig Neues und erreichten im übrigen niemals kanonischen Status“ (Funkenstein, 1992, S. 38).

Damit soll angedeutet werden: Wenn man zur Demonstration der Wirkung der späten Judenschriften Luthers nur die Antisemiten des 19. Jahrhunderts aufzählt, die ihn zitiert haben, wird methodisch allzu einseitig verfahren,

Allerdings gelingt mit dieser Engführung eindrucksvoll, die Widersprüche und Unmenschlichkeiten in Luthers Denken beim Namen zu nennen. Das mindert wiederum die Bereitschaft zu kritischen Nachfragen: Ging es den Juden in katholischen Territorien, für die Luthers Judenhass irrelevant war, besser als in den protestantischen? Tatsächlich war ihre Stigmatisierung seit dem IV. Laterankonzil 1215 durch Papst Innonzenz III. in katholischen Fürstentümern nicht aufgehoben; unter den Päpsten der Zeit des Trienter Konzils (1545-1563) verschärften sich die Maßnahmen Roms gegenüber Juden und Andersgläubigen.

In Brumliks Engführung der Betrachtung der Judenschriften Luthers von 1543 wäre ein Seitenblick auf die Römische Kurie durchaus erhellend gewesen. Deren Maßnahmen gegen die Juden, die zur Gefahr für die Christen erklärt wurden, waren viel gravierender als die Lutherschen Schriften. Denn der Papst setzte das Recht, das sogleich Gesetz wurde, was Luther nicht zukam, und das Gesetz besaß sofort Wirkung, die Luthers Schriften nicht hatten. Papst Paul IV. war 1555 nicht darauf angewiesen, Luther zu lesen, um mit der Bulle „Cum nimis absurdum“ durch Einrichtung von Ghettos für die Juden im Kirchenstaat (der große Gebiete umfasste) eine Lebenssituation zu schaffen, die die Betroffenen zu einem großen Teil die Auswanderung vorziehen ließen. Damit nicht genug, ließ Papst Paul IV. kurz nach Inkrafttreten der Bulle in Ancona 24 aus Portugal geflohene Marranen (zwangsbekehrte Juden) verbrennen – so steht es im Wikipedia-Stichwort unter seinem Namen.

Zwar siedelten die Juden seit Jahrhunderten traditionell in eigenen Vierteln, doch durch Paul IV. war die Zwangsseparierung der Juden per Gesetz erfolgt – in einem Modus, der viel näher der Situation der Juden im NS-Staat gleichkam, als Luthers Wunschvorstellungen Faktizität besaßen. Zumal Papst Pius V. in der Bulle „Hebraeorum gens“ 1569 die Juden aus dem Kirchenstaat vertreiben ließ, bis auf die Bewohner der Ghettos in Rom und Ancona. Wenn also ein Vergleich mit Streicher, Hitler und der tatsächlichen (nicht nur gewünschten) völligen Dehumanisierung der Juden durch christliche Gestalten des 16. Jahrhundert angesagt ist, bieten sich die Päpste an, Luther allenfalls sekundär. Da fragt man sich einmal mehr, warum dies nicht wenigstens in einem Nebensatz erwähnt wurde von den Referenten der Loccumer Tagung.

Bei Brumlik erfolgt recht unmittelbar vom Luther des Jahres 1543 der historische Zeitsprung in den Hitlerstaat. Das ist – wie auch der Vergleich Luthers mit Julius Streicher – moralisch konsequent, gelingt aber nur durch Ausblendung der gewaltigen Differenz historischer Kontexte. Ein solcher Vergleich kann kaum für ein methodisches Vorgehen in Anspruch genommen werden, das die eigenen Thesen Falsifikationsversuchen aussetzt. Hier wirkt vielmehr die Unmittelbarkeit des Vergleichs der Worte Luthers mit denen des Judenhetzers Julius Streicher als Kartharsis-Erfahrung – die nicht befreit, sondern Schuld aufdeckt und deutlich macht. Das hat sein Recht, ist aber primär von einem moralischen Anliegen, nicht von einem methodisch strengen historischen Vorgehen abgedeckt, das zunächst ergebnisoffen arbeitet und erst am Ende eines differenzierten Beschreibungsprozesses ein bewertendes Urteil fällt, welches durch neue Einsichten korrigierbar bleibt. Das moralische Urteil im Horizont des Holocaust verträgt keine Korrektur.

Relevant für eine künftig noch zu führenden Grundsatzdiskussion ist der Gegensatz zwischen einer primär aufklärenden Methode, die historische Schuld beim Namen nennt, um zugleich jeden Differenzierungsversuch als Schuldrelativierung zurückzuweisen, und – andererseits – einer auf Abwägung und Unterscheidung basierenden historisch-kritischen Methode, die komplexe Lagen in Sowohl-als-auch-Urteilen zu fassen sucht. Eine solche Auseinandersetzung über Methoden historischer Vergegenwärtigung ist bislang nicht geführt worden. Die dilemmatische Problemstruktur, die das Thema „Luther und die Juden“ erzeugt, wurde in den zum Reformationsjubiläum anberaumten Tagungen – es gab weit mehr, als die beiden hier genannten – zwar berührt, selbst aber nicht auf einer metahermeneutischen Ebene zum Thema gemacht. Das Dilemma besteht darin, dass Luther (wie die Kirche seit jeher, nur noch maßloser) das Alte Testament christlich umdeutete und den Juden die Anerkennung dieser christlichen Sicht auferlegte, wohigegen das fromme Judentum ein solches Vorgehen zu Recht als völlig inakzeptabel ablehnen musste und muss.

Die Grundstruktur des Problems findet sich beim ersten Theologen des Urchristentums, bei dem Diasporajuden und Heidenmissionar Paulus, der bekanntlich zunächst die Judenchristen grausam verfolgt hatte. Nach seinem Damaskuserlebnis, in dem ihm Christus erschienen sei, besaß er für seine Missionsarbeit ein echtes Legitimationsproblem als Apostel, hatte er doch den Juden Jesus nie gekannt. In seinem Brief an die von ihm christlich bekehrten Thessalonicher ließ er seinen Zorn aus an jener großen Mehrheit der Juden seiner Zeit, die dem Gott der Tora treu blieben:

„Die [Juden] haben sogar den Herrn Jesus getötet und die Propheten und haben auch uns verfolgt. Sie gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind. Und um das Maß ihrer Sünden ganz vollzumachen, hindern sie uns, den Heiden ihre Rettung zu predigen“ (1 Thess 2, 15-16).

In dieser hasserfüllten Polemik des Apostels, der die Juden verfluchte (obgleich Paulus selbst stolz war auf sein Judentum), nachdem sie ihn völlig zu Recht aus der Synagoge warfen (Apg 18, 6), liegt die Wurzel für Luthers Judenhass. Diesen religiös bedingten Hass auf die Anfänge des ‚Christentums im Judentum’ zurückzuführen ist heute notwendig, weil der Rückgang zum Ursprung dem achtungs- und verständnisvollen Dialog zwischen Juden und Christen, wie er heute geführt wird, ihre gemeinsame Glaubensbasis, aber auch die von Anfang an vorhandene Gegnerschaft bewusst macht (Frederiksen, 2002). Luther hätte man die Taufe und den Christusglauben – einmal hypothetisch gedacht – durch die Jerusalemer Urgemeinde gewünscht, da würde er, mit dem vollzogenen Übertritt ins Judentum anders über die Juden gesprochen haben, selbst wenn das fromme Judentum Palästinas die Jesus-Anhänger Jerusalems nur als zu bekämpfende Sekte wahrnahm.

Erwähnt wurde dieser Ursprungszusammenhang von niemandem auf der Loccumer Tagung. Unfassbar, dass den Juden über Jahrhundete hinweg der Vorwurf gemacht wurde, Jesus ans Kreuz gebracht zu haben („Mörder unseres Herrn“), wenn es sich zugleich um ein von dem (christlichen) Gott angeblich gewolltes Heilsgeschehen gehandelt haben soll – eine Paradoxie christlichen Denkens sondergleichen – die in ihrer Tragik von jüdischer Seite durchaus erwähnt wurde in der Vergangenheit, von christlicher Seite jedoch nie wirklich ernst genommen wurde!

2.4. Christoph Wiese – Jüdische Urteile über Luther im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

Wird von der jüngeren deutschen Geschichtsschreibung das Wilhelminische Zeitalter als für Nationalismus und Antisemitismus besonders anfällig geschildert, so weckte auf der Loccumer Tagung der Beitrag von Christian Wiese, Inhaber der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie der Universität Frankfurt a.M., besondere Aufmerksamkeit. Er sprach über „Gegenläufige Wirkungsgeschichten: Jüdische und antisemitische Lutherlektüren im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik“ (Heft 1, S. 33-52). Die Leser der Loccumer Dokumentation werden in ihrer hohen Erwartung von diesem Referat nicht enttäuscht. Der zu einer umfassenden Studie erweiterte Vortragstext ist der interessanteste der gesamten Tagungsdokumentation. Wiese machte noch einmal deutlich, dass jüdische Gelehrte es waren, die die Differenz der jesuanischen und der paulinischen Theologie betonten – eine Differenz, die in der neutestamentlichen Forschung schon seit langem thematisiert wurde, in der Universitätstheologie heute wieder wahrgenommen wird, doch in der Gemeindetheologie nirgendwo wirklich angekommen zu sein scheint.

In der Tat: Jesu Lehre und sein Verweis auf das Kommen des Messias war einem jüdischen Wanderlehrer und dem Judentum seiner Zeit durchaus angemessen, wohingegen die paulinische Theologie dem jüdischem Glauben völlig entgegen stand. Dass Paulus den Tempel, die Beschneidung als Zeichen des Bundes, jüdische Gesetze und die Bindung an Jerusalem als Ort der Naherwartung des Herrn preisgab, stellte eine bis zum – oben zitierten – Hass gesteigerte Abwendung vom jüdischen Glauben dar. Die Abneigung des Heidenapostels bezog sich – siehe Luther – vor allem auf die Unbelehrbarkeit „seiner“ Juden – so kann man es in Analogie zum Titel des Buches (2015) von Thomas Kaufmann, „Luthers Juden“, formulieren.

Christoph Wiese sparte keinen der völkisch und rassistischen Autoren aus, die gegen das Judentum hetzten, aber er zeigte zugleich – nicht zuletzt am Beispiel von Hermann Cohen und Leo Baeck –, in welchem Ausmaß von jüdischen Intellektuellen, Historikern und nicht zuletzt auch von Rabbinern Luther geschätzt wurde. Das gilt für das Lutherbild des idealisierenden jüdischen Philosophen Hermann Cohen (der 1876 auf den Philosophie-Lehrstuhl seines verstorbenen Mentors Friedrich Albert Lange an die Marburger Universität berufen worden war), und es gilt ebenso für die führende Gestalt im deutschen Judentum, den Rabbiner Leo Baeck, der die im Zeichen des Historismus blühende protestantische Bibelkritik gegen das Christentum selbst wandte, um „die Lehre ihres Stifters, des pharisäischen Juden Jesus“ (Wiese, Heft 1, S. 37, Sp. 2), den evangelischen Theologen als Spiegel vorzuhalten.

Es dauerte 100 Jahre, bis Baecks Sicht im deutschen Protestantismus theologisch tatsächlich ernst genommen wurde und man den ‚Juden Jesus’ als fundamental für das Verständnis des christlichen Evangeliums wieder entdeckte. Hat man als kritischen Nachklang zur Lutherfeier von 1983 den Band „Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden“ zu nennen (Kremers, 1985), dann verdrängt die derzeit nicht historisch geführte, sondern moralische Schuld bearbeitende Luther-Diskussion den Tatbestand, dass ab den neunziger Jahren die tradierte bis dahin verhängnisvoll antijudaistische Paulus-Interpretation evangelischer Theologen ihre Neuorientierung fand – versehen mit einem Eingeständnis der „christlichen Erblast“, den der Antijuadismus schon immer darstellt (Dietrich et al., 1999).

Christoph Wiese (Heft 1, S. 45) zeigt zum einen, wie jüdische Interpreten Ende des 19. Jahrhunderts mit „der geradezu beschwörenden Deutung des Reformators als eines Ahnherrn der Werte der Aufklärung eine wirksame Gegengeschichte gegen dessen Inanspruchnahme für eine nationalistisch-exklusive, antijüdische und antiemanzipatorische Kultur zu formulieren“ suchten, und er zeigt zum anderen, wie dieser Versuch zum Scheitern verurteilt war. Er ging unter im Morast der nationalistischen, antisemitischen Deutungen Luthers seitens der politischen Rechten im Kaiserreich, verstärkt dann in der Weimarer Republik. Wiese verzichtet auf jede moralische Abrechnung. In der Sanftheit seiner sprachlichen Diktion wird das historische Unrecht völkisch-deutschnationaler Intellektueller an einem die Kultur im deutschsprachigen Raum durch herausragende Leistungen mitgestaltenden Judentum umso deutlicher – ein eindrucksvoller Essay.

Den Schmerz nachempfinden zu können, den der lutherische Protestantismus dem Judentum in der Vergangenheit zufügte, war, wie die Statements von Teilnehmern am Tagungsende ausweisen, eine wichtige Erfahrung der Loccumer Tagung.

3. Die Berliner Tagung – eine Themenübersicht

Eine eigene ausführliche Besprechung verdient der Konferenzband der Berliner Tagung vom 5.-7.10.2015, mit dem Titel „Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus. Konvergenzen und Konfrontationen in ihren Kontexten“, ediert von Dorothea Wendebourg und Andreas Stegmann (Humboldt-Universität Berlin, Theologische Fakultät) sowie Martin Ohst (Kirchliche Hochschule Wuppertal). Im Rahmen dieser Rezension kann jedoch nur kurz auf die Beiträge des Werkes verwiesen werden. Der Band vereinigt Expertinnen und Experten aus theologischer Wissenschaft und Kirchengeschichte, die der Protestantismus im deutschsprachigen Raum und international derzeit aufzubringen in der Lage ist, um das in den letzten fünf Jahren viel beackerte Thema „Luther und die Juden“ in noch umfassenderer Weise zu bearbeiten, als dies bisher geleistet wurde. Eine deutliche Absage erteilen die Herausgeber des Bandes dem Ansinnen, der gestellten Aufgabe ausschließlich aus der „Verfolgungs- und Opferperspektive“ gerecht werden zu wollen. Es geht nicht darum, der Rezeptionsgeschichte von Luthers „Judenschriften“ eine weitere Darstellung im moralischen Enthüllungsmodus „Von Luther zu Hitler“ hinzuzufügen.

Im Vordergrund steht vielmehr die Absicht, die Komplexität der historischen Zusammenhänge in ihren Wechselwirkungen zu erfassen, aus denen die Reformation hervorging, Wirkung zeigte, und dies im Spiegel der historischen Ereignisse mit Blick auf das christlich-jüdische Verhältnis in ganz Europa bis ins 20. Jahrhundert. Die Frage, ob die Reformation im Verhältnis christlicher Herrschaft zum Judentum einen tiefen historischen Einschnitt markiert, oder ob sie vor allem als Transformation bereits bestehender Entwicklungen zu sehen sei, wird somit nicht in der Absicht gestellt, sie mit einer einfachen, bejahenden oder verneinenden Antwort zu versehen, sondern für Differenzierung einzutreten.

Die einzelnen Referate sind drei Kapiteln zugeordnet: „I. Luthers Zeitgenossen und die Juden“, „II. Protestantismus und Judentum vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert“, „III. Die internationale Szene.“ Im ersten Kapitel kommen zur Sprache: der Judenhass von Johannes Eck (Luthers Gegner in der Leipziger Disputation 1519), das Judenbild der deutschen Humanisten, der Antijudaismus der Reformatoren Martin Bucer (Straßburg) und Johannes Calvin (Genf) sowie der Kampf der Anglikanischen Kirche gegen die Juden. Das mit zehn Referaten umfangreichste Kapitel II behandelt unter anderem: Deutsche Aufklärung und Judentum; Judenfeindschaft bei Rühs und Fries; die Auseinandersetzung zwischen Franz Delitzsch und August Rohling; Antisemitismus bei Paul de Lagarde, sowie bei Adolf Stöcker und Reinhold Seeberg; Berliner Antisemitismusstreit (Heinrich von Treitschke); theologischer Liberalismus bei Adolf von Harnack, Martin Rade und Friedrich Naumann; nationales Luthertum und die Juden nach dem Ersten Weltkrieg; Luthertum und Zionismus in der Weimarer Republik. – Das dritte Kapitel wirft ein Licht auf Territorien außerhalb des Deutschen Reiches. Hier geht es um die Themen: Antisemitismus und Antiprotestantismus in Frankreich; Antisemitismus in Österreich; Antijudaismus und Antisemitismus im Zarenreich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Weitere Beiträge sind dem Luthertum und dem Judentum in den USA sowie dem dänischen, norwegischen und schwedisch-finnischen Luthertum in ihrem Verhältnis zu den Juden gewidmet. Die Referate über die drei letztgenannten Länder mit ihren lutherischen Staatskirchen erfassen auch die Zeit des Natonalsozialismus mit der deutschen Besetzung (Dänemark, Norwegen) bzw. „Waffenbruderschaft“ (Finnland) während der Kriegsjahre.

Der Konferenzband „Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus“ (Wendebourg et al., 2017) erwähnt in der Fülle seiner Referate weder Brumlik, noch Julius Streicher, während Hitler dort, wo Autoren die NS-Zeit berühren, selbstredend, häufig genannt wird. Schon im ersten Konferenzbeitrag von Hans-Martin Kirn (Kirchenhistoriker an der Evangelisch-Theologischen Universität Amsterdam-Groningen) über „Die spätmittelalterliche Kirche und das Judentum“ wird ein weites und widersprüchliches Feld der Betrachtung des Verhältnisses von Kirche und Judentum entfaltet. Kirn bezeichnet Antijudaismus als die theologisch-kirchliche Sicht des Judentums, als das „Andere“ und „Fremde“, das zugleich Nahes und Verwandtes beinhaltet, welchem das Christentum in der gemeinsamen Geschichte bei aller religiösen Distinktion ein Lebensrecht in friedlicher Koexistenz einräumt, jedoch dies in der Wertehierachie der Gesellschaft nur ganz unten, in der Prekrarität. Demgegenüber ist Antisemitismus eine politisch-ökonomische Kategorie, die auf Marginalisierung und Dehumanisierung des Judentums abhebt, demnach die „fragile Toleranz“ eines friedlichen Nebeneinanders (bei deutlich vorhandener Ungleichheit in der sozialen Werthierarchie) zerstört. Kirst geht davon aus, dass beide Linien von Anfang existierten, doch durch die Jahrhunderte hindurch nach keiner auszumachenden Regel zu fixieren seien. Auf die Arbeiten von Gavin I. Langmuir (1924-2005), den kanadisch-amerikanischen Antisemitismusforscher, zurückgreifend entwickelt er eine etwas andere Sicht der Kontexte von Antijudaismus und Antisemitismus, als sie die jüngsten innerdeutschen Diskussionen um den ’rechten Gebrauch’ beider Begriffe erkennen ließen.

Luther zeigt so gesehen in seinen letzten Schriften von 1543 durchaus antisemitische Züge, nur sind sie, auf die Gesamtgeschichte bezogen, keineswegs so einzigartig, wie die jüngste innerdeutsche Diskussion dies glauben macht – und dennoch sind sie furchtbar genug.

Selbstverständlich müssen bei einem solchen umfassenden Projekt, wie sie die Berliner Tagung darstellte, auch Wünsche offen bleiben. Gerade weil der Protestantismus im Verhältnis zum Judentum im Mittelpunkt steht, vermisst man einen Beitrag über Katholische Kirche und Judentum, der das Thema im interkonfessionellen Kontext reflektiert. Ein Referat über den Heidelberger Hebraistik-Professor Andreas Johann Eisenmenger (1654-1704), einem Wegbereiter des modernen Antisemitismus, und ein weiteres Referat über Antisemitismus in Polen waren für die Tagung vorgesehen, konnten aber nicht realisiert werden. Alles in allem bildet dieser Band die gegenwärtig wichtigste Informationsquelle über den derzeitigen Diskussions- und Forschungsstand zur Geschichte des Protestantismus im Hinblick auf sein Verhältnis zum Judentum.

4. Schluss: Von Martin Luther zu Julius Streicher: Schuld mittragen?

Das Reformationsjubiläum „500 Jahre Ablass-Thesen“, das hinter uns liegt, hatte einen breiten Mittelbereich von bedeutenden historischen und kulturellen Veranstaltungen. Es gab jedoch wie im Protestantismus üblich an den Rändern des Geschehens eine extreme Flügelbildung in der Art des Gedenkens. Auf der weltlich-sinnlichen Seite stand ein reichhaltiges Angebot an Gedenkartikeln wie Luther-Socken („Hier stehe ich …“), Luther-Bier oder Magnetsticker mit Luther-Rose zur Verfügung, das Lebensfreude, wenn auch oberflächlich, ausstrahlte. All das, was Luther an geldbringender katholischer Gedenkkultur zu seiner Zeit abschaffte, blüht in der Reformations-Gedenkkultur der Gegenwart wieder auf und wird von Kommunen, Kirchen und Gewerbe dank der damit verbundenen touristischen Geschäftsbelebung gefördert; am meisten kann sich Wittenberg freuen. Auf der anderen Seite existierte eine mit historischer Schuld und mit Schmerz verbundene intensive theologische Diskussion lange schon im Vorfeld der Feierlichkeiten, die mit bleibenden Einsichten mit Bezug auf Luthers Verhältnis zu den Juden verbunden ist.

Die Verteufelung der Juden durch Luther wurde von evangelischen Kirchen und Kirchenhistorikern lange klein gehalten. Die bequeme Unterscheidung zwischen Antijudaismus, den man für die späten „Judenschriften“ Luthers bereit hielt, und dem auf Vernichtung abzielenden rassistisch excludierenden Antisemitismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts diente auch dazu, das moderne Lutherbild vom „eliminatorischen“ Antisemitsmus möglichst frei zu halten. Diese Abgrenzung ist heute in Frage gestellt.

Einen großen Anteil daran hat Micha Brumlik, der mit Beharrlichkeit dafür sorgte, dass die Reformationsfeierlichkeiten nicht (nur) freudige Luther-Erinnerung wurden. Dafür kann ihm die evangelische Kirche dankbar sein: Ein entscheidender Aspekt der Lutherdeutung, der in früheren Zeiten der Verdrängung anheim fiel, ist heute offen diskutierbar mit dem vorhersehbaren Ergebnis: auf Luther und die Reformation fält ein Schatten. Andererseits ist dies auch der erste Schritt zur Befreiung von der Last der Vergangenheit. Das funktioniert nach der Einsicht (eines bekannten Witzes): „Schön, wenn der Schmerz nachlässt!“ Je schneller die Kirchen sich dem historischen Unrecht stellen, desto eher kann der voranschreitende Historisierungsprozess dieses Kapitel als „vergangen“ abhaken.

Dass bedeutet nicht, dass Brumliks Thesen zu Luther richtig sind. Es bedeutet ebensowenig, dass es im Judentum innerhalb der jüngsten Zeit nicht auch andere Stimmen gibt, die andere Schwerpunkte in der Bewertung Luthers setzen. Schon das Referat Christoph Wieses auf der Loccumer Tagung macht das deutlich, auch wenn er mit Brumlik in der Forderung übereinstimmt, die fatale politische Seite der religiösen Überzeugungen Luthers in Bezug auf die Juden dürfe keinesfalls unterschätzt werden.

Alles in allem scheint die neue Diskussion mit einem besonderen hermeneutischen Interesse verbunden zu sein. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der angemessenen Kurzformel zur Deutung von Luthers abwertendem Blick auf die Juden seiner Zeit. Ist das zu kennzeichnen als: Antijudaismus, Judenfeindschaft, Judenhass, vormoderner Antisemitismus oder als eliminatorischer Antisemitismus? Die Suche nach dem angemessenen Begriff, die typisch für frühere Jahre war, ist heute einem unausgesprochenen Kampf um Deutungshoheit gewichen.

Es ist ebenso klar, dass namhafte Kirchenhistoriker Brumliks Sicht keineswegs teilen. In definitorischer Nähe zu Thomas Kaufmann stehend betont Hans-Martin Kirst in seiner Kritik der dehumanisierenden Marginalisierung des Judentums durch die christliche Mehrheitsgesellschaft des ausgehenden Mittelalters:

„Es versteht sich von selbst, das hier der Begriff des Antisemitismus in einem vormodernen Sinne gebraucht wird und nicht mit dem Rassenantisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts zusammenfällt. Den Begriff des Antisemitismus für vormoderne Zeiten ganz zu meiden, wie zuweilen noch stets gefordert, macht wenig Sinn, weder im Blick auf den Sprachgebrauch der internationalen Forschung noch im Blick auf die Sachlage” (Kirst 2017, S. 4).

Demgegenüber vertritt Brumlik folgende Thesen:

  1. „Für mich ist Martin Luther der Begründer des deutschen, eliminatorischen Antisemitismus“ (Brumlik, zit. von Röder, 2013, S. 2, online);
  2. Luthers Wendung gegen die Juden 1543 ist „zwar auch aus theologischen, vor allem aber aus politischen und ökonomischen Motiven“ heraus erfolgt (Brumlik, Heft 1, S. 55);
  3. „Die Antwort auf die Frage nach der Stellung Luthers zu Juden und Judentum wird sich letztlich daran bemessen, für wie angemessen man die Einlassung des später in Nürnberg zum Tode verurteilten Herausgebers des ‘Stürmers’ vor dem internationalen Militärgericht auf die ihm vorgehaltenen antisemitischen Verbrechen hält“ (Brumlik, Heft 1, S. 53).

Konfrontiert mit diesen drei Thesen, dürfte es Allgemein- und Kirchenhistorikern schwerfallen, dazu bejahend mit dem Kopf zu nicken – und trotzdem existiert kein veröffentlichter Text, der sich mit diesen drei Thesen kritisch auseinandersetzt. Das Bedürfnis, energisch „Nein!“ zu sagen, löst vor allen Dingen die Behauptung aus, Luthers historische Bewertung hänge davon ab, für wie angemessen man den Vergleich Luthers mit Julius Streicher hält. Eine Beziehungsfalle erster Güte tut sich hier auf! Der Vergleich ist moralisch motiviert, doch ist er auch methodenkritisch-historisch gerechtfertigt? Jedenfalls wird auf diese Weise dem armseligen Argument eines notorischen antisemitischen Volksverhetzers, der mit seinem durchschaubaren Versuch der Schuldentlastung seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen suchte, durch einen heute auch von den Medien hochgehobenen Luther-Vergleich eine Aufwertung zuteil, die schwer zu ertragen ist.

Julius Streicher wurde nicht zum Antisemiten, weil ihm Luthers Distanz zu den Juden irgendetwas bedeutete in seiner (katholischen) Sozialisation, und die Bewertung Luthers kann – vernünftigerweise – nicht davon abhängen, ob vor dem Internationalen Militärgerichtshof 1946 diesem Kriegsverbrecher, der ständig zu neuen erbärmlichen Ausflüchten griff, dann auch der Name Luther einfiel. Erst recht nicht ist Luthers Stellung in der Geschichte davon abhängig, wie man den Vergleich mit Streicher bewertet. Aber nun schnappt die Beziehungsfalle zu: Hält man den Vergleich für unangemessen, widerspricht man einer hohen moralischen Instanz, was sich schlicht verbietet. Hält man den Vergleich für angemessen, wird Luther zum Gefolgsmann Hitlers und zum Vordenker des Holocaust. Aus einem solchen Szenario des kommunikationstheorisch oft beschriebenen „double bind“ gibt es kein Entkommen: Was immer man sagt, man liegt falsch – geschlagen von der Moral, nicht durch ein Argument! Hier wird man sich in einer liberalen Gesellschaft auf das Recht berufen, anders denken zu dürfen. Und dies, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, man wolle die historische Schuld des Reformators verdrängen, dass er den Juden seiner Zeit zuletzt nicht mit Humanität und Nächstenliebe, sondern mit „scharfer Barmherzigkeit“ begegnen wollte.

Alle drei Behauptungen Brumliks besitzen hohes moralisches Gewicht, indem sie zur Auseinandersetzung auffordern und Verdrängung beenden wollen – in dieser Funktion sind sie relevant! Sie haben ihren Wert als Herausforderung zu einer Diskussion, und sie hatten tatsächlich Wirkung, indem sie den Verdacht ausräumten, die evangelische Kirche, die 2017 Luther und die Reformation feiert, sei ein Wohlfühlverein, dem derartige, Luther in Frage stellende Sichtweisen nichts anhaben können. Gerade deshalb ist die Zunft der Experten aufgefordert, diese drei oben genannten Statements Brumliks nicht durch Schweigen zu übergehen. Solange sie nicht in Frage gestellt werden, sind sie gültig. Brumlik hat seine Überzeugung nicht erst 2015, sondern bereits in vorangegangenen Jahren ausgesprochen, sie sei hier noch einmal im Kontext zitiert:

„Betrachten wir Martin Luther als einen der bedeutendsten frühneuzeitlichen politischen Theoretiker. In einer Reihe mit Thomas Hobbes, mit Machiavelli und mit Spinoza. Und dann sehen wir einen frühneuzeitlichen deutschen Nationalisten, der zudem noch ein halbierter Antikapitalist gewesen ist. Und da haben sich die Juden, wie auch 400 Jahre später, sehr schnell, sehr gerne als Sündenbock hergegeben. Für mich ist Martin Luther der Begründer des deutschen, eliminatorischen Antisemitismus“ (Brumlik, zit. nach Röder, 2013, S. 2).

Kaufmanns Statement: „Einer physischen Eliminierung der Judenheit“ habe Luther „nicht das Wort geredet“, lässt Brumlik nicht gelten; stattdessen widmet er sich der Aufgabe, Kaufmanns Erkenntnis mit kritischem Blick auf den politischen Luther „noch einmal zu überprüfen“ (Heft 1, S. 53). Aber eine solche Überprüfung wird von Brumlik selbst nur in ein paar Sätze gekleidet und bleibt unentfaltet, das Versprechen wartet weiterhin auf seine Erfüllung.

Man fragt sich als Beobachter, warum (Kirchen-) Historiker, die mit Micha Brumlik in den Vorjahren öffentlich über den „Fall Luther” diskutierten, dem Für und Wider der oben zitierten drei Aussagen Brumliks nicht in einem publizierten, zitierbaren Text nachgingen. Denn im mündlichen Streitgespräch auf dem Podium wurde dem Vergleich Luthers mit Julius Streicher selbstverständlich widersprochen.i

Ja, warum? Aus zwei Gründen, denke ich: Gegenüber einem schwergewichtigen moralischen Urteil, gefällt von einer hohen moralischen Institution (die Brumlik zweifellos ist), muss jede auf Differenzierung abhebende Sachargumentation scheitern. Sie wird nur noch als vergebliche Selbstrechtfertigung bewertet. Dieses Dilemma erzeugt die Strukturdifferenz zwischen sachlichem und moralischem Urteil. Ein zweiter Grund hat einen religiösen Kontext. Wenn man selbst lutherischer Protestant ist – ich gehöre der Evangelisch-Lutherischen Kirche Hannovers an –, fühlt man sich mitschuldig. Es gab ja im NS-Staat nicht nur das Problem „Deutsche Christen“, sondern das nicht minder große Problem, dass Kirchenleitungen wie gerade die Hannoversche unter dem damaligen Bischof Marahrens völlig versagten. Er sah sich nach Einsetzen der „Endlösung” nicht in der Lage, den kirchlichen Protest gegen den Holocaust mitzutragen, als er 1943 von seinem württembergischen Amtskollegen, Bischof Wurm, dazu aufgefordert wurde (https://de.wikipedia.org/wiki/August_Marahrens).

Das Gefühl eigener Mitschuld ist auch für den Forscher spürbar, je tiefer er in den Abgrund der NS-Verbrechen blickt. Ich fühle mich selbst davon betroffen. Es gab in der Vätergeneration der eigenen Familie eine „eingeheiratete“, aus Polen (Krakau) stammende jüdische Familienangehörige, Ehefrau von Walter Warneck, dem 1924 verstorbenen Onkel meines Vaters. Mit der Heirat konvertierte Tylla Warneck, geb. Goldstein, vom jüdischen zum evangelischen Glauben; die Ehe blieb kinderlos. Tylla Warneck (1880-1942) lebte nach dem Tod meines Großonkels allein; sie war nicht unvermögend durch die hohe Position, die Walter Warneck als Direktor eines Industriebetriebes ausgeübt hatte. Als Witwe nahm sie eine gehobene Stellung im Berliner „Kaufhaus des Westens“ wahr, bis zu dessen „Arisierung” mit Beginn des NS-Staates. Tante Tylla wurde 1942 deportiert, im KZ ermordet. Niemand von Eltern und Verwandten fühlte sich gedrängt, nach dem Krieg mit den heranwachsenden Kinder darüber ein paar Worte zu verlieren (Retter, 2011, S. 264f.). Sie war aus dem Gedächtnis unserer Familie und der weit verzeigten Verwandtschaft ausgelöscht. Erst in den achtziger Jahren veränderte sich dies. Das Gefühl, mitschuldig geworden zu sein, an dem was passierte, und ebenso daran mitschuldig zu sein, dass niemand etwas sagte, nachdem es geschehen war, ist bei mir haften geblieben, bis heute.

Deshalb gibt man Brumlik selbstverständlich Recht mit seiner Aufforderung, Luthers Judenschriften im Erinnern an den Holocaust ihren historischen Ort zuzuweisen, sie in ihrer Schrecklichkeit niemals zu verdrängen. Man steht hinter Theodor W. Adornos Mahnung, „ … dass Auschwitz nicht noch einmal sei“ (1966). Als Christ und Mensch ist man bereit, die moralische Berechtigung der Lutherkritik Brumliks sofort anzuerkennen. Ob das von ihm skizzierte Bild des „politischen“ Luther dem historischen Erkenntnisstand entspricht, ist eine ganz andere Frage. Doch meine begonnene persönliche Anmerkung zur Familiengeschichte ist noch ein Stück weiterzuführen. Der aus Hessen nach Berlin gezogene pensionierte Pastor Gerhard Hochhuth machte es sich zur Aufgabe, in den Archiv-Unterlagen der Kirchengemeinde in Berlin-Pankow nach ehemaligen Gemeindemitgliedern zu suchen, die von den Nazi-Gesetzen als Juden ausgewiesen waren (obwohl zum Christentum konvertiert), um ihrem Schicksal nachzugehen.

Niemand hatte ihn darum gebeten. Er tat es einfach. Er fand einen Namen, über den es sonst keine Unterlagen gab, nur die Heiratsurkunde, er prüfte Dokumente aus weiteren Quellen, die Deportation und Tod dieser Frau, Tylla Warneck, ausweisen. Er veranlasste, dass für die ermordete Witwe, mit der ihn sonst nichts verband als die innere Pflicht, für ihr Gedenken zu sorgen, ein Stolperstein verlegt wurde, in einer kleinen Gedenkfeier (Stolpersteingruppe Pankow, 2012). Monate später findet er zufällig durch Eingabe des Namens Tylla Warneck einen Buchtext von mir von 2011 (vom LIT-Verlag online gestellt), in dem ich über mein Leben berichte, einschließlich des kurzen Abschnittes über Tylla Warneck (wie oben mitgeteilt), über die er mehr wusste als ich.

Gerhard Hochhuth findet meine Telefonnummer im Internet, ruft mich an. Ich fahre zu ihm nach Berlin-Pankow, wo ich geboren wurde, stehe vor dem Stolperstein für Tylla Warneck in demselben Wohnblock, und ich bleibe von dem Ereignis tief beeindruckt – gewiss bis an mein Lebensende. Beeindruckt von dem, was ein Geistlicher, dem Luther etwas bedeutet, für andere Menschen aus Nächstenliebe getan hat, ohne davon irgendein Aufsehen zu machen, ohne Medienrummel, Konferenzen, also genau in Gegensatz stehend zu jenem Kontext, in dem das Thema „Luther und die Juden“ heute öffentlichkeitswirksam erscheint.

Die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers versah 2016 aus Anlass der Jährung der Reichspogromnacht (9./10. November) das Luther-Denkmal vor der Hannoverschen Marktkirche mi einer Augenbinde. Ein gelber Schal wurde der Statue des Reformators in Augenhöhe umgebunden. Das war als „starkes Symbol“ gemeint (Landesbischof Ralf Meister) – Ausdruck des „kritischen Umgangs“ der Kirche mit Luthers Sicht der Juden (https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien/frontnews/2016/11/09).

In Kirchendenkmälern des Mittelalters wird die Gestalt der „Synagoga“ mit verbundenen Augen dargestellt – Symbol der Blindheit des Judentums für die christliche Wahrheit – Antitypus der ihr gegenüber gestellten siegreichen „Ecclesia“ (der Kirche) mit dem Wahrheitsanspruch christlicher Lehre. Durch die Umkehrung tradierter Augenbinden-Symbolik sollte die Betroffenheit der lutherischen Kirche zum Ausdruck kommen. Nichts gegen guten Willen! Irgendwie ist man beeindruckt, von dem Willen der Kirche, Betroffenheit zum Ausdruck bringen zu wollen. Die Ambivalenz der Symbolhandlung, zeigt sich erst in ihren Folgen: Die Neonazis warten nur darauf, öffentliche Lutherdenkmäler in Beschlag zu nehmen, um „ihren Luther” zu feiern durch Anbringung von Zitaten aus der Schrift von 1543.

Abgesehen davon ist die kirchliche Binden-Aktion auch Ausdruck von Hilflosigkeit. Man will symbolisch in öffentlicher Aktion – ganz plötzlich – an einem einzigen Tag etwas loswerden, von dem man seit Luthers Zeit hätte wissen können. Eine Augenbinde soll die Kirche auf Grund des vorhandenen äußeren Druckes von einer historischen Last befreien, ohne dass evangelische Bischöfe vorher von sich aus darauf gekommen wären, überhaupt etwas zu tun. Die historische Schuld wird von der Kirchenleitung nun symbolisch Luther und seiner Blindheit zugeschoben. Eine ähnliche Aktion hatte 2015 dem Lutherdenkmal in Wittenberg gegolten. Es passte gut, dass Luthers Geburt 1483 auf den 10. November fiel: Zum Geburtstag war die Binde wieder ab. Ganz anders handelte Gerhard Hochhuth in Berlin. Er nahm die Schuld auf sich und benötigte für seine Arbeit sehr viel mehr Zeit und Kraft – medial verbreitete Symbolik brauchte er nicht.

Wie reagiert die kahtolische Kirche, die Protestanten gegenwärtig auffallend freundlich behandelt? Früher waren das alles Ketzer. Papst Franziskus entschuldigte sich 2015 öffentlich für das Verhalten der Kirche gegenüber den Waldensern, doch das war alles. Jahrhunderte lang waren die Waldenser als Ketzer in Europa verfolgt worden. Der spätere Papst Pius V. befahl noch als Bischof in seinem Amtsbereich „die Waldensische Ketzerei auszumerzen“. 2000 Waldenser wurden 1561 in Guardia Piemontese ermordet (https://de.wikipedia.org/wiki/Guardia_Piemontese).

Dass die Römische Kurie für den heilig gesprochenen Pius V. derzeit eine Augenbinde bereithält, ist kaum anzunehmen. Man fragt sich, ob der faktische Massenmord an Gläubigen durch einen Kirchenheiligen nicht schwerer wiegen sollte als ein Buch Luthers. Die Lutherkritik der Loccumer Tagung sah das offenbar nicht so. Katholischerseits wurde immerhin von einer „Schuldgeschichte in ökumenischer Perspektive“ gesprochen (Sattler, 2016). Dass die Gremien der Ökumene beschließen werden, Kirchenbibeln mit einer Binde zu versehen, um den Antisemitimus des Neuen Testaments symbolisch zu bedauern, ist eher unwahrscheinlich. Luther hat 1543 im Kern nur das interpretiert, was er bei dem Evangelisten Johannes vorfand. Jesus sagt hier zu den von ihm verdammten Juden, ihr Vater sei der Teufel, sie selbst die Kinder eines Mörders und Lügners, weshalb sie Jesu Wahrheit ablehnen (Joh 8,44). Kehren wir zur Gegenwart zurück.

Während der NS-Zeit geschehenes Unrecht aufzudecken ist eine Pflicht, der sich in der Bundesrepublik alle Wissenschaften stellten in der Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer Disziplin im „Dritten Reich”. Dies geschah und geschieht in der Regel durch Schuldzuweisung. Man entdeckt etwa fragwürdige Einlassungen in die NS-Ideologie bei hochrangigen Wissenschaftlern und präsentiert den Befund öffentlich, weist Schuld zu. Dies war und ist notwendig. Der Gedanke, dabei selbst schuldig zu sein oder schuldig zu werden, aber auch bereit zu sein, Schuld mitzutragen und zu übernehmen, wird der Historiker normalerweise von sich weisen.

Seit langem bin ich damit konfrontiert, dass in der historisch forschenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus – und jetzt ebenso mit dem Judenhass Luthers – dieses Gefühl der Schuld bohrt und nicht abweisbar ist – bin ich doch Angehöriger einer heute zu den „Greisen“ gehörenden Generation von Menschen, die als Kinder die Kriegszeit und das Ende des NS-Regimes noch erlebten. Wie kann man damit umgehen? Dem frommen, praktizierenden Christen (als den ich mich mit meinem säkularisierten Protestantismus hier nicht ausweisen möchte) ist dieser Gedanke im Horizont christlicher Ethik – „Einer trage des andern Last!“ (Gal 6,2) – keineswegs fremd. Er wird allerdings in Diskussionen über den Nationalsozialismus in christlichen Kreisen und historischen Kolloquien kaum thematisiert. Keine Religion der Welt hat so viel zu tun mit Schuld wie die christliche, zumal in lutherischer Sicht. Das an Unschuldigen von einem verbrecherischen Regime begangene Unrecht ist nicht rückholbar. Man wird im Forschungsprozess von dem Gedanken geleitet, die bisher unerkannt gebliebene, nun aufgedeckte Schuld von Tätern oder Mitläufern beim Namen zu nennen. Man sollte selbst mit dafür einstehen, dass die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung nicht bedroht wird durch Entwicklungen, die zu Regimen der Gewalt führen, wie sie im 20. Jahrhundert bei uns existierten. Doch nur die Zuwendung zu den Opfern hilft, die bestehende historische Schuld ein Stück weit abzutragen. Was Gerhard Hochhuth für Opfer des Holocaust getan hat, damit wir ihrer gedenken können, verdient auch aus dieser Perspektive vom kollektiven Gedächtnis festgehalten zu werden.

Damit will ich sagen: Martin Luther, sein Glaube und die sich auf ihn berufenden christlichen Gemeinschaften eröffnen mehrere Möglichkeiten, in historischer Perspektive wahrgenommen zu werden. Jene Möglichkeit, die Micha Brumlik präferiert, sollte einen hohen Rang besitzen. Aber andere darf und soll es auch geben. Die Kritik demaskiert „bequeme“ Lutherbilder, mit denen wir zu leben gelernt haben. Gerade Reformationsfeiern dürfen nicht zum Verlust unseres Gedächtnisses führen, welches die Holocaust-Erinnerung wach hält. Durch eine „Schulderklärung“ der Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die tatsächlich auf ihnen lastende Schuld nicht geringer und sie ist noch keineswegs abgetragen. Wenn es ein moralisches Recht gibt, Luther mit Streicher zu vergleichen, dann deshalb, um die Erinnerung an diese Schuld wachzuhalten.

Andererseits darf das Motiv, den Reformator des 16. Jahrhunderts mit einem Nazi und Judenhetzer vergleichen zu wollen, etwas Wichtiges nicht aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen: Julius Streicher hatte schon lange vor 1933 in seinem Hetzblatt „Der Stürmer“ gegen das Judentum gewütet und dies weiterhin im „Dritten Reich” getan. Doch es gab in den dreißiger Jahren wenige lutherische Theologen und protestantische Gläubige (Gleiches gilt für die katholische Seite), die nicht dem NS nahe standen, sondern ihre Stimme erhoben, Widerstand leisteten, deportiert wurden und ihr Leben ließen (Beispiele in: Hummel & Strohm, 2000).

Dabei wird man – die aufrüttelnden Referate von Micha Brumlik und Christoph Wiese der Loccumer Tagung im Bewusstsein –, sich wiederum klar machen müssen, in welchem Ausmaß bei den Lutherfeiern des Jahres 1933 namhafte evangelische Theologen „antisemitischen Anklängen gegenüber nicht abgeneigt waren“ (Wiese, Heft 1, S. 46). Da die Judenschriften von 1543 während der NS-Zeit bei lutherischen Theologen stärker als je zuvor Beachtung fanden, wird man „Widerstand“ gewiss nicht zum großen Dreh- und Angelpunkt der Geschichte evangelischer Theologie in der NS-Zeit erheben wollen. Als Mitglied einer lutherischen Kirche kann man heute nur unter Schmerzen zum Ausdruck bringen: Es gab einige wenige Stimmen gegen NS und Holocaust, es gab Predigten evangelischer Geistlicher, die „das Tier aus dem Abgrund“ predigten (Diestelkamp, 1993), und es gab in den Jahrzehnten nach dem Holocaust von evangelischer Seite das Bemühen, jenseits offizieller Schulderklärungen von Kirchenleitungen dem „jüdischen Gegenüber“ nahe sein zu wollen durch Lernen, Verstehen und der Bereitschaft, sich der Schuld zu stellen (Stäblein, 2004).

Besprochene Literatur

  • Evangelischer Pressedienst (Hrsg.) (2016): Martin Luther und die Juden. Luthers Judenschriften und ihre Rezeption – Ein Projekt zum Reformationsjubiläum. Internationale Tagung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der Evangelischen Akademie Loccum, der Buber-Rosenzweig-Stiftung, der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Frankfurt a. M.: Der Informationsdienst epd-Dokumentation (1) und (2). Heft Nr. 10, vom 8. März 2016 (64 Seiten; ISSN 1619-5809; 5,40 €); Heft Nr. 11, vom 15. März 2016 (52 Seiten; ISSN 1619-5809; 5,10 €).
  • Wendebourg, Dorothea; Stegmann, Andreas & Ohst, Martin (Hrsg.) (2017): Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus. Konvergenzen und Konfrontationen in ihren Kontexten. Tübingen: Mohr Siebeck (556 Seiten; 978-3-16-155102-4; 89,00 €)

Weitere Literatur (Quellenbelege)

  • Adorno, Theodor W. (1966): Erziehung nach Auschwitz. URL: http://schule.judentum.de/nationalsozialismus/adorno.htm (Abruf: 26.10.17)
  • Battenberg, J. Friedrich (2001): Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München: Oldenbourg.
  • Benedict, Hans-Jürgen (2016): Reformation und Denkfreiheit. Geistreiche Religionskritik von Heine bis Brecht. Bielefeld: Luther-Verlag.
  • Claussen, Johann Hinrich (2014): Gottes Klänge. Eine Geschichte der Kirchenmusik. In Zusammenarbeit mit Christoph Jäger. München: C.H. Beck.
  • Detmers, Achim (2005): Martin Bucer und Philipp Melanchthon und ihr Verhältnis zum Judentum. [reformiert-info.de] URL: http://reformiert-info.de/4938-0-8-4.html (Abruf: 27.10.17)
  • Diestelkamp, Adolf Joachim (1993): Das Tier aus dem Abgrund. Eine Untersuchung über apokalyptische Predigten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Dessau: Zeitungsverlag Anhalt.
  • Dietrich, Walter; George, Martin & Luz, Ulrich (Hrsg.) (1999): Antijudaismus – christliche Erblast. Stuttgart. Kohlhammer.
  • Fredriksen, Paula (2002): The Birth of Christianity and the Origins of Christian Anti-Judaism. In: Fredriksen, Paula & Reinhartz, Adele (Eds.): Jesus, Judaism, and Christian Anti-Judaism. Reading the New Testament after the Holocaust. Lousville: John Knox Press, p. 8-30.
  • Funkenstein, Amos (1992): Juden, Christen und Muslime. Religiöse Polemik im Mittelalter. In: Beck, Wolfgang (Hrsg.): Die Juden in der europäischen Geschichte. Sieben Vorlesungen. München: C.H. Beck, S. 33-49.
  • Heine, Heinrich (1835): Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland [erschienen deutsch 1835]. URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/zur-geschichte-der-religion-und-philosophie-in-deutschland-378/1 (Abruf 24.10.17).
  • Hummel, Karl-Joseph & Strohm Christoph (Hrsg.) (2000): Zeugen einer besseren Welt. Christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts. 4. Aufl. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.
  • Kaufmann, Thomas (2006): Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. Tübingen: Mohr Siebeck.
  • Kaufmann, Thomas (2015): Luthers Juden. 2. Aufl. Stuttgart: Reclam.
  • Kirst, Hans-Martin (2017): Die spätmittelalterliche Kirche und das Judentum. In: Wendebourg, Dorothea et. al.: Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 3-24.
  • Kremers, Heinz (Hrsg.) (1985): Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden. Geschichte, Wirkungsgeschichte. Herausforderung. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag.
  • Preisendörfer, Bruno (2017): Als unser Deutsch erfunden wurde. Reise in die Lutherzeit. 8. Aufl. Berlin: Galiani.
  • Retter, Hein (2011): Protestantische Selbstvergewisserung zwischen Theologie und Pädagogik. Was nun, wenn Gott barmherzig, doch nicht allmächtig ist? Münster: LIT-Verlag.
  • Röder, Étienne: Die Schatten der Reformation. Die evangelische Kirche nähert sich den schwierigen Seiten Martin Luthers. Deutschlandfunk (Archiv). 2.11.2013. URL: http://www.deutschlandfunkkultur.de/die-schatten-der-reformation.1278.de.html?dram:article_id=267499 (Abruf 23.10.2017)
  • Sattler, Dorothea (2016): (Nicht allein) Martin Luther und die Juden. Thesen im Sinne der Solidarisierung mit einer Schuldgeschichte in ökumenischer Perspektive. In: Evangelischer Pressedienst (Hrsg.) (2016): Martin Luther und die Juden. Luthers Judenschriften und ihre Rezeption – Ein Projekt zum Reformationsjubiläum). Hannover: Der Informationsdienst epd-Dokumentation (2). Heft Nr. 11, vom 15. März 2016, S. 34-39.
  • Scheible, Heinz (2010): Aufsätze zu Melanchthon. Tübingen. Mohr Siebeck.
  • Schilling, Heinz (2017): Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. 4. Aktualisierte Aufl. München: C.H. Beck.
  • Schorn-Schütte, Luise (2011): Die Reformation – Vorgeschichte, Verlauf, Wirkung. 5. Aufl. München: C.H. Beck.
  • Stäblein, Christian (2004): Predigten nach dem Holocaust. Das jüdische Gegenüber in der evangelischen Predigtlehre nach 1945. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.
  • Stolpersteingruppe Pankow (2012): URL: https://www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/4780 (Abruf: 26.10.17).
  • Ströbel, Dietmar (2017): Seinen Glauben selber singen. Zur Entwicklung des Singens als evangelisches Glaubenslied von der Reformation bis zur Aufklärung. Ein musikpädagogisches Studienbuch zum Reformationsjubiläum 2017. Norderstedt: Books on Demand.
  • Volkow, Shulamith (1992): Juden und Judentum im Zeitalter der Emanzipation. Einheit und Vielfalt. In: Beck, Wolfgang (Hrsg.): Die Juden in der europäischen Geschichte. Sieben Vorlesungen. München: C.H. Beck, S. 86-108.

Endnoten

i Die Loccumer Tagung endete mit einer Abschlussdiskussion ohne Thomas Kaufmann und Micha Brumlik. Am 12.11.2015 fand zum Thema „Martin Luther und die Juden“ im Logensaal der Kammerspiele in Hamburg eine von NDR-Kultur veranstaltete Podiumsdiskussion statt – mit Micha Brumlik, Thomas Kaufmann und Dorothea Wendebourg, unter der Moderation von Dr. Claus Röck, NDR. Hier distanzierten sich die beiden Kirchenhistoriker durchaus von Thesen Brumliks zum Vergleich Luther – Streicher. URL: http://www.ndr.de/ndrkultur/Luther-und-die-Juden,audio263588.html (Abruf: 23.10.17).

Über den Autor und Rezensenten

Prof. em. Dr. Hein Retter: Emeritus, Technische Universität Braunschweig, Institut für Erziehungswissenschaft (Deutschland). Website: www.tu-braunschweig.de/allg-paed/personal/ehemalige/hretter. Kontakt: h.retter@tu-bs.de

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