Aufwachsen in unübersichtlichen Zeiten: Die Bedeutung von Pädagogen als Berater und Lebensbegleiter von Jugendlichen

By Olga Graumann | February 26, 2017

Zusammenfassung: Jugend ist die Zukunft der Gesellschaft, sie ist einem stetigen Wandel unterworfen, sie ist komplex, widersprüchlich und divers und kann nicht mehr nur national betrachtet werden. Anhand zweier Beispiele werden vier entscheidende Entwicklungsaufgaben, vor die sich junge Menschen gestellt sehen, („bilden und qualifizieren“, „ablösen und neu binden“, „Medien nutzen“, „wertorientiert handeln und politisch partizipieren“), näher betrachtet. Der Fokus liegt dabei auf der Rolle, die Pädagogen als Berater und Lebensbegleiter spielen. Das eine Beispiel ist den Entwicklungsaufgaben „bilden und qualifizieren“ sowie „ablösen und neu binden“ gewidmet. Es beschreibt eine in hohem Maße belastete Kindheit und Jugend und zeigt, dass sich dieser junge Mensch durch die Förderung von Resilienzprozessen dennoch eine Zukunft aufbauen konnte. Als zweites Beispiel wurde der Amoklauf eines Jugendlichen in München im Juli 2016 gewählt, das den Entwicklungsaufgaben „Medien nutzen, wertorientiert handeln und politisch partizipieren“ zuzuordnen ist. Die Rolle des professionellen Pädagogen als Berater wird dabei besonders herausgearbeitet. Jugendliche scheitern nicht in erster Linie an gesellschaftlichen Kräften, sondern an dem, was professionelle Erwachsene tun.
Schlüsselwörter: Beraten und Begleiten, Resilienz, professionelles Lehrerhandeln, personaler Bezug

Summary (Growing up in disconcerting times: the importance of educators as advisors and lifelong companions of young people): The young are the future of society, they are subjected to continuous change, complex, contradictory and diverse and can no longer be considered in a national context only. Through two examples, four crucial developmental challenges with which young people are faced („educating and qualifying“, „dissolving and forging new alliances“, „using media“, „world-oriented acting and political participation“) are examined more closely. The role of educators as advisors and lifelong companions is the focus here. One of the examples addresses the developmental tasks of „educating and qualifying“ as well as „dissolving and forging new new alliances“. It describes and shows how, depsite an extremely difficult childhood and youth, this young person was able to build a future with the support of resilience processes. The second chosen example is that of a youth running amoc in July 2016 in Munich; this pertains to the developmental tasks of „using media, world-oriented acting and political participation“. In particular, the role of the professional educator as advisor is emphasized in this case. The young do not fail primarily because of societal pressures but rather because of the actions of adults.
Keywords: Consultation and accompaniment, resilience, professional pedagogical action, personal connection

Резюме (Ольга Грауманн: Взросление в сложное время: Значение педагогов как консультантов и помощников подростков): Молодежь является будущим общества, она подвержена постоянным переменам, она комплексна, противоречива и разнообразна и ее уже нельзя больше рассматривать в национальных пределах. На основе двух примеров подробно рассматриваются две решающих задачи развития, которые ставят перед собой молодые люди, («получать образование и повышать квалификацию», «разрывать и снова налаживать связи», «использовать средства массовой информации», «действовать, ориентируясь на ценности и участвовать в политической жизни»). При этом внимание уделяется роли, которую играют педагоги в качестве консультантов и помощников. Один пример посвящен задачам развития «получать образование и повышать квалификацию», а также «разрывать и снова налаживать связи». Он описывает в достаточной мере загруженные детство и юность и показывает, что этот молодой человек, все-таки, благодаря процессам жизнестойкости смог построить будущее. В качестве второго примера была выбрана беспорядочная стрельба подростка в Мюнхене в 2016 году, который можно отнести к задачам развития «использовать средства массовой информации, действовать, ориентируясь на ценности и участвовать в политической жизни». При этом особо подчеркивается роль профессиональных педагогов как консультантов. Подростки терпят неудачу, в первую очередь, не в общественных делах, а в том, что делают профессионалы-взрослые.
Ключевые слова: консультировать и помогать, жизнестойкость, профессиональная деятельность учителя, персональное отношение


Jugend in Deutschland heute

Jugendforschung war bezüglich ihrer Methoden und Fragestellungen in Deutschland seit der frühen Bundesrepublik der 1950er Jahre einem stetigen Wandel unterworfen. Jugend wird heute als ein sich ständig veränderndes Kollektiv gesehen, denn es besteht ein sich gegenseitig bedingender Zusammenhang zwischen den sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und den Veränderungen in der Jugendzeit. Daher wird Jugend heute stärker im politisch-gesellschaftlichen als im traditionellen entwicklungspsychologischen Kontext betrachtet.

„Jugend ist die Zukunft unserer Gesellschaft“ heißt es in der Shell Jugendstudie, einer empirischen Untersuchung der Einstellungen, Werte, Gewohnheiten und des Sozialverhaltens von Jugendlichen in Deutschland, die vom Mineralölkonzern Shell seit 1953 herausgegeben wird. Alle vier Jahre wird sie seither insbesondere von Wissenschaftlern der Universität Bielefeld durchgeführt und in Fachkreisen als Referenzwerk wahrgenommen. Seit 2002 ist Klaus Hurrelmann federführend für die Studien. Die Jugendlichen kommen hier selbst zu Wort, d.h. es wird nicht über sie diskutiert, sondern ihre Einstellungen und Sichtweisen werden analysiert und in Beziehung zu den gesellschaftlichen Gegebenheiten gesetzt. Es wird die Frage gestellt, wie die Jugendlichen mit den politischen und sozialen Bedingungen umgehen, wie sie sich auf die verschiedenen Anforderungen ihres familiären, schulischen, sozialen und kulturellen Umfeldes einstellen und diese gestalten (Shell Deutschland Holding, 2015).

Aktuelle Krisen und Konflikte, die weltpolitischen Charakter haben wie der radikale Islamismus, Terroranschläge, und der damit verbundene Anstieg an Flüchtlingen durch die kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien, im Irak, in Afghanistan sowie in Ländern Afrikas, prägen die Jugendzeit in Deutschland derzeit. Jung sein ist – wie auch in den meisten anderen Ländern – komplex, widersprüchlich und divers und kann nicht mehr nur national betrachtet werden.

Der Zeitraum, der als „Jugendzeit“ bezeichnet wird, hat sich in den letzten Jahrzehnten verschoben. Die Jugend beginnt früh, mit etwa 11 Jahren und endet oft sehr spät, so dass der Zeitraum in der Forschung inzwischen die Lebensjahre 11 bis 25 umfasst.

Die Jugendzeit wird längst nicht mehr nur von den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen im Land beeinflusst, sondern in hohem Maße von den – eingangs schon erwähnten – Krisen und Konflikten wie dem radikalen Islamismus, Terroranschlägen, dem Anstieg an Flüchtlingen und dem inzwischen Jahrzehnte dauernden Bemühen um Integration der Einwanderer.

In Deutschland machen die Heranwachsenden heute nur noch ein Viertel der Bevölkerung aus (Statistisches Bundesamt, 2015). Diese demographische Entwicklung lässt sich in sehr vielen Industrienationen feststellen. Die Zahl der alten Menschen wächst, die Zahl der jungen Menschen dagegen nimmt ab:

(aus: Hurrelmann, 2004, S. 14)

(aus: Hurrelmann, 2004, S. 14)

Nur 13 % der Jugendlichen leben in ländlichen Regionen, die Mehrzahl lebt in großen oder mittelgroßen Städten. Ca. 10 % der Jugendlichen stammen aus der unteren Sozialschicht (Leven, Quenzel & Hurrelmann, 2015, S. 48).

Die Jugend wächst heute in einem multikulturellen Land auf. Die Gruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund steigt stetig und liegt derzeit bei ca. 27%. Das heißt, dass jeder Vierte in Deutschland lebende Jugendliche einen Migrationshintergrund hat. Angesichts der eben erwähnten demographischen Entwicklung tut Deutschland gut daran, seine ihre Grenzen vor den Flüchtlingen nicht vollständig dicht zu machen. Viele Grundschulen können nur noch existieren, weil der Prozentsatz der Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder insbesondere von geflüchteten Eltern sehr hoch ist. Auch die deutsche Wirtschaft sieht in dem Zustrom von Flüchtlingen vor allem Chancen, und viele Unternehmen wollen gut qualifizierte Asylbewerber einstellen. Besonders das deutsche Handwerk freut sich über Migranten, die auf den Arbeitsmarkt drängen (Demling, 2015).

Kinder und Jugendliche erleben kulturelle Vielfalt schon ab dem Kindergarten:

Da ist z.B. Boris, ein Junge, der mit seiner Mutter und seiner Schwester aus Bosnien geflohen ist. Er war damals 5 Jahre alt. Er zeichnet wunderbar und studiert heute Medizin. Sein bester Freund seit Kindergartenzeit ist deutschstämmig, seine Bezugspersonen bis heute sind die Eltern des deutschen Freundes. Da ist Helene, deren Eltern aus Kasachstan nach Deutschland gekommen sind als sie 11 Jahre alt war. Sie studierte und promovierte in Politischen Wissenschaften. Seit der Gymnasialzeit ist sie eng mit einem deutschstämmigen Mädchen befreundet. Da ist Robert, der mit seinen Eltern aus Polen gekommen ist, und dem es gelungen ist, so schnell wie möglich jeden Hinweis auf seine polnische Abstammung zu vertuschen. Er hat im Gymnasium eine Klasse übersprungen und in seinem Freundeskreis interessiert es keinen, dass seine Eltern aus Polen eingewandert sind. Da ist Ahmet, ihre Eltern sind aus der Türkei eingewandert, sie ist in Deutschland geboren und ist heute Leiterin einer Grundschule.

Da ist aber auch Mahmud, der aus Syrien ohne seine Eltern geflohen ist. Er hat auf der Flucht traumatische Erfahrungen gemacht und sucht nun Schutz in Deutschland. Für ihn ist es zunächst schwer, Freunde zu finden und in Deutschland Fuß zu fassen.

Die große Herausforderung besteht darin, diesen Jugendlichen schnell die Möglichkeit zu verschaffen, die deutsche Sprache zu erlernen, einen Schulabschluss zu erwerben und entweder eine Ausbildung oder ein Studium aufzunehmen. Mahmud braucht eine schulische und berufliche Perspektive.

Hurrelmann und Albrecht (2014, S. 28) unterscheiden vier Komplexe von Entwicklungsaufgaben bzw. grundlegenden Herausforderungen, die Menschen in ihrer Jugendzeit zu bewältigen haben:

  1. Einen Beruf finden und finanziell selbständig werden (bilden und qualifizieren).
  2. Sich von der Familie lösen, einen Freundeskreis aufbauen und in die Rolle eines Partners bzw. Elternteils schlüpfen (ablösen und neu binden).
  3. Die Rolle als Konsument sowie als Mediennutzer übernehmen und lernen, selbstständig mit Geld umzugehen (konsumieren, die Medien nutzen, wirtschaften).
  4. Die Rolle als sozial engagierter und politischer Bürger mit eigenen Wertorientierungen annehmen (wertorientiert handeln und politisch partizipieren).

Diese Entwicklungsaufgaben werde ich im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele näher betrachten.

Bilden und Qualifizieren

Schul- und Ausbildungszeiten prägen die Struktur der Lebensphase Jugend nachhaltig. Die Nachfrage nach hochqualifizierten und international gebildeten Fachkräften steigt, und zugleich gibt es immer weniger Arbeitsplätze für gering Qualifizierte. Einfache Schulabschlüsse haben in einer wissensbasierten Gesellschaft kaum mehr einen Wert. Der Bildung kommt im Leben der Jugendlichen daher eine Schlüsselrolle zu. Interessant ist zunächst die Frage: Was wünschen sich die Jugendlichen?

Jugendliche in Deutschland wünschen zwar an erster Stelle die Sicherheit eines Arbeitsplatzes, an die zweite Stelle setzen sie jedoch ideelle Aspekte. Es ist ihnen wichtig, in der Berufstätigkeit selbständig sein zu können und eigene Ideen einbringen zu können. Erst an dritter Stelle stehen materielle Erwartungen. Auffällig ist, dass die Jugendlichen ausreichend Freizeit neben dem Beruf haben wollen, sie wollen durch die Berufstätigkeit nicht von einem genussvollen Leben abgeschnitten werden (Leven, Quenzel & Hurrelmann, 2015, S. 78). Vor allem die Jugendlichen aus sozial gut gesicherten Elternhäusern erleben oft, dass ihre Eltern keine Zeit zum Leben haben und nur noch arbeiten, vermutlich wollen sie eher keine „Workaholics“ werden.

Sehr positiv zu bewerten ist, dass 85 % der befragten Jugendlichen später etwas Nützliches für die Gesellschaft tun wollen, und dass sie anerkannt werden wollen (ebd., S. 79).

Der Anteil an Jugendlichen, die ein Gymnasium besuchen und einen Hochschulabschluss anstreben, steigt in Deutschland seit Jahrzehnten kontinuierlich an. Ein erfolgreicher Schul- und Ausbildungsabschluss fällt zeitlich zusammen mit der Ablösung von den Eltern und dem Bedürfnis, finanziell unabhängig zu werden. Das kostet sehr viel Energie und bedarf auch der Beratung und Unterstützung von Erwachsenen.

Das sind in erster Linie die Eltern, aber auch Großeltern, Verwandte, Lehrer, Trainer im Sportbereich, erwachsene Freunde. Wie die Shell-Studie feststellt, hängt eine erfolgreiche Schullaufbahn ganz erheblich von dieser Unterstützung ab (ebd.., S. 67).

In zahlreichen Studien konnte belegt werden, dass die soziale Herkunft einen wesentlichen Einfluss auf den Schulerfolg hat. Ein bildungsfernes Elternhaus verringert die Chance einen höheren Bildungsabschluss zu erwerben und vermindert damit die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Chancen eines Jugendlichen, das Abitur zu machen sind immer noch mehr als doppelt so hoch, wenn der Vater selbst das Abitur hat (ebd., S. 68).

Pädagogische und psychologische Unterstützung brauchen daher insbesondere die Jugendlichen, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft gefährdet sind. Laut Statistik sind das vor allem auch Jugendliche mit Migrationshintergrund.

Im Folgenden möchte ich den Aspekt „Bilden und Qualifizieren“ unter dem Gesichtspunkt näher betrachten, welche Rolle Pädagogen als Berater und Lebensbegleiter für diejenigen spielen, die Schule und Ausbildung unter erschwerten Bedingungen absolvieren müssen.

Diers (2016) berichtet in ihren Studien von Fallanalysen resilienter Jugendlicher, d.h. solcher Menschen, die sich trotz schwierigster Lebensbedingungen normal entwickeln und sogar Karriere machen.

Ich werde die in hohem Maße belastete Kindheit und Jugend von Marica (Diers, 2016, S. 258 – S. 326) zusammenfassend schildern und zeigen, wie es möglich war, dass sich dieser junge Mensch dennoch eine Zukunft aufbauen konnte.

Die Familie von Marica lebt von Sozialhilfe, Maricas Vater ist Immigrant, die Mutter deutschstämmig. Marica ist die Älteste von vier Kindern. Noch bevor sie in die Schule kommt, kümmert sie sich bereits um die kleineren Geschwister und schützt sie vor der Gewalt durch den Vater. Die brutalen Angriffe auf die Mutter eskalieren, als der Vater vor den Kindern die Mutter mit einem Gewehr bedroht und ihr ins Bein schießt. Die Mutter muss mit den Kindern vor dem Vater in eine andere Stadt fliehen, dabei wird sie von der Großmutter und einer Tante unterstützt. Da die Mutter selbst psychisch erkrankte, kann sie ihren Kindern keinen Halt geben, im Gegenteil, auch sie schlägt nun ihre Kinder. Marica übernimmt die Mutterrolle für die jüngeren Geschwister und sagt: „…da kam ich dann erstmal so richtig in die … Mutterrolle rein“ (Diers, 2016, S. 265). Die Mutter heiratet einen anderen Mann. Der Stiefvater, ein Alkoholiker, ist der Mutter und den Kindern gegenüber noch brutaler als der leibliche Vater und Marica berichtet von sexuellen Übergriffen, gegen die sie von der Mutter nicht geschützt wird. Sie hat massive Schlafstörungen und große Ängste im Dunkeln. Auch hat sie, wie sie selbst sagt, „sehr viel Angst“ vor „Männern allgemein“ und insbesondere vor älteren Männern (ebd., S. 277).

In der Schule bemüht sich Marica jeden Tag, ihre Probleme zu überdecken. Sie ist trotz ihrer häuslichen Situation eine gute Schülerin. Niemand soll merken, welches Leid sie täglich erfährt. Sie sagt von sich, dass sie „seelisch am Ende“ gewesen sei (ebd., S. 271), und als ein Lehrer sie das erste Mal auf ihre Probleme anspricht, hat sie Schwierigkeiten, sich ihm zu öffnen.

Tante und Großmutter sind für Marica in ihrer Kindheit die wichtigsten Menschen. Der Stiefvater verbietet den Kontakt, aber Marica findet Wege, diesen dennoch aufrecht zu erhalten.

Marica versucht die anderen fünf Kinder (ihre drei Geschwister und zwei Kinder des Stiefvaters) ruhig zu halten und übernimmt damit nun zusätzlich die Erziehungsaufgaben der Mutter und des Mannes. Sie steht morgens als erste auf, weckt die anderen Kinder und kocht für die Mutter Kaffee.“ (ebd., S. 273). Der Stiefvater schlägt die Mutter so, dass sie ins Krankenhaus muss. Sie hat am ganzen Körper blaue Flecken und ist bis auf die Knochen abgemagert. Die Familie ist auf dem absoluten Tiefpunkt angekommen, sie muss wieder fliehen, diesmal in ein Frauenhaus in einer anderen Stadt.

Marica muss die Schule wechseln, doch die neue Lehrerin gibt ihr Schutz und Geborgenheit (ebd., S. 284). Sie motiviert Marica und macht ihr Mut, so dass ihr die Schule Spaß macht und sie gute bis sehr gute Leistungen erbringt. Sie verliert die Angst vor ihren Mitschülern und schließt Freundschaften (ebd., S. 285).

Marica geht es zum ersten Mal vergleichsweise gut, da sich auch die Leiterin des Frauenhauses um sie kümmert. Doch die Mutter trifft sich wieder mit dem Stiefvater und die Familie zieht zu diesem Mann zurück. Für Marica ist das eine sehr schmerzhafte Erfahrung. Sie sagt: „Ich hab mich so geweigert, ich hab den ganzen Tag … nur geweint, ich hab gesagt ich will nicht zurück, ich möchte nicht zurück, ich will mir das nicht antun, ich hab hier einen guten Start in der Schule gehabt, …, sie (die Mutter) hat das aber nicht akzeptiert …“ (ebd., S. 288). Marica muss wieder die Schule wechseln.

Nachdem der Stiefvater diesmal in lebensbedrohlicher Weise brutal gegenüber der Mutter und den Kindern ist, schalten sich Tante und Großmutter ein und zeigen den Mann an. Er wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Marica kann jedoch weiterhin nicht ohne Angst und Panik mit (vor allem älteren) Männern allein in einem Raum sein (ebd., S. 292).

Sie möchte nun aus der Wohnung der Mutter ausziehen. In dem Schulleiter findet sie einen Menschen, der ihr hilft, diesen Schritt zu vollziehen. Doch sie schafft es noch nicht, ihre Geschwister bei der Mutter allein zu lassen. In der Therapie, die ihr der Schulleiter vermittelt, sagt sie auf die Frage, wie sie diese Situationen überhaupt ausgehalten habe: „Ich weine, oder ich nehme mein Kissen und schreie da rein, damit ich mich besser fühle (ebd., S. 294).

Mit 16 Jahren beginnt Marica eine Ausbildung zur Maßschneiderin. Sie heiratet mit 19 Jahren und bekommt ein Kind, gründet also ihre eigene Familie, in der sie sich geborgen und gut fühlt. „Die eigene Familie ist für Marica eine Quelle der Kraft. Sie hat ihr dabei geholfen, aus der Mutterrolle für ihre Geschwister herauszufinden und sich von ihrer eigenen Mutter zu distanzieren“ (ebd., S. 319).

Marica hat ihre enormen Entwicklungsaufgaben gemeistert – trotz aller Erschwernisse, die ihr in den Weg gelegt wurden. Das war nur möglich, weil sie immer wieder unterstützende Erwachsene hatte: die Großmutter, die Tante, Lehrer und Lehrerinnen, die Leiterin des Frauenhauses, aber auch gleichaltrige Freunde. In der Rückschau bezeichnet sich Marica selbst als einen sehr positiven Menschen und ist der Meinung, dass man auch etwas aus diesem Leben lernen kann, auch „wenn es so nicht nötig gewesen wäre“ (Diers, 2016, S. 316), wie sie es formuliert.

Hätte sich nie ein Lehrer oder eine Lehrerin um Marica bemüht, wäre sie möglicherweise an ihrem häuslichen Schicksal zerbrochen, und sie hätte heute keinen Beruf und vielleicht auch keine eigene Familie.

Sie hat zwar immer versucht, ihr häusliches Leid und Elend nicht nach außen dringen zu lassen, doch die genannten Personen wurden von sich aus aufmerksam und aktiv.

Sie beschreibt eine Lehrerin als „lieb“ und hat in Erinnerung, dass sie immer gelächelt hat. Die Lehrerin schützte Marica vor verletzenden Erfahrungen und unangenehmen Nachfragen der anderen Schüler. Dadurch wurden im Sinne des Konzeptes Resilienz belastende Ereignisse reduziert und positive Gefühle gestärkt (ebd. S. 302).

Der Schulleiter der Schule, an der sie auch ihren Abschluss macht, überträgt ihr die Aufgabe der Klassensprecherin, und sie wird Beraterin für Mitschüler, die sich aggressiv verhalten haben. Das hilft ihr, mit einem gewissen Abstand über ihre eigene Situation zu reflektieren.

Auf den Rat des Schulleiters hin, beginnt Marica, Basketball zu spielen. Sport wird für sie eine Bewältigungsstrategie. Mit diesem neuen Hobby hängen verschiedene Funktionen zusammen: Sie kann beim Sport Aggressionen abbauen, ’freier werden’ und sich ablenken von der belastenden familiären Situation (ebd., S. 446).

Als die Mutter versäumt, die Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland für Marica zu verlängern, droht ihr die Abschiebung in das Heimatland ihres Vaters. Doch der Schulleiter setzt sich bei den entsprechenden Behörden dafür ein, dass Marica bleiben kann (ebd. S. 306). Dieser Einsatz gehört nicht zu den üblichen Aufgaben eines Lehrers oder Schulleiters, doch gerade diese Bemühung zeigt Marica, dass sie wichtig ist, und das gibt ihr Selbstvertrauen. Der Schulleiter wird zur Vaterfigur, Marica hat auch heute noch Kontakt zu ihm (ebd., S. 307).

Die für mich wesentlichste Erkenntnis, die wir aus der Biographie Maricas ziehen können, ist:

Aufmerksam die Bedürfnisse der uns anvertrauten Jugendlichen beobachten und den Mut haben, einzuschreiten, auch wenn der Betroffene sein Leid verstecken möchte.

Diers stellt in ihrer Untersuchung fest, dass „Lehrerinnen und Lehrer als positive Rollenmodelle schützend auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in Risikolage einwirken“ können (ebd., S. 445). „Sie können durch eine emotionale Basisunterstützung oder informelle Unterstützung ein protektiveres Umfeld für ihre Schülerinnen und Schüler schaffen, auf die Entwicklung von risikobelasteten Kindern und Jugendlichen einwirken, und sie haben die Möglichkeit durch ihre biographische Beratungskompetenz Wandlungsprozesse und damit Resilienzprozesse zu fördern.“ (ebd., 445)

Zusammenfassend soll noch einmal aufgelistet werden, was insbesondere Lehrerinnen und Lehrern hier gelungen ist:

  • Die Lehrpersonen haben erkannt, dass Marica offensichtlich ein schlimmes Schicksal im häuslichen Bereich erleidet und sie haben sich nicht davon abschrecken lassen, dass Marica dieses Leid in der Schule verbergen wollte.
  • Sie haben von sich aus das Gespräch mit Marica gesucht.
  • Sie waren – wie Marica es ausdrückt – „lieb“ und haben sie vor den Mitschülern geschützt.
  • Sie haben ihr Aufgaben übertragen, die ihre Ressourcen stärken und ihr ermöglichen, die Zone der nächsten Entwicklungsstufe zu beschreiten.
  • Damit haben sie erreicht, dass Marica Freunde finden konnte und in die Schulgemeinschaft eingebunden wurde.
  • Sie haben sie vor einer Abschiebung in das Land ihres Vaters, das sie nie kennengelernt hat, geschützt.

Eine für beide Seiten fruchtbare Beziehung zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden kann nur gelingen, wenn man als zu Erziehender identisch ist mit seinen Wertvorstellungen und seinen Handlungen. Auch wenn der personale Bezug nicht nur durch absichtsvolles und geplantes Handeln, sondern auch durch nicht absichtsvolles Handeln geprägt ist, kann und muss professionelles Lehrerhandeln gelernt werden – zunächst in sehr viel intensiverer Weise in der Lehrerausbildung als es derzeit der Fall ist, aber auch in Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen sowie in Supervision, Kursen und Trainingsprogrammen. Professionelles Handeln heißt hier vor allem auch, sich um die eigene Weiterentwicklung zu bemühen, um sich selbst in die Lage zu versetzen, eine adäquate Beziehung aufzubauen, aber auch, dafür zu sorgen, dass das Kind und der Jugendliche beziehungsfähig wird.

Schule kann nicht alles leisten und Lehrer sind nur ein – wenn auch bedeutsamer – Mosaikstein in der Lebenswelt des Jugendlichen. Die Grenzen der Lehrenden werden überschritten, wenn es ihnen allein obliegt, Erziehung im oben genannten Sinn zu leisten. Den Funktionsverlust der Familie kann Schule ohne gravierende Hilfen und Veränderungen nicht ausgleichen. Neuere Untersuchungen haben jedoch die immense Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit und deren Fähigkeit zur Herstellung von personalen Bezügen für das Verhalten und die sozialen Einstellungen von Kindern und Jugendlichen hervorgehoben( Graumann, 2001, S.110).

Ablösen und neu binden

Die psychische und soziale Ablösung von den Eltern gehört zu der zweiten großen Entwicklungsaufgabe. In der Biographie von Marica wurde auch dieser Aspekt angesprochen. Da Marica die Geschwister nicht im Stich lassen will, schafft sie es nicht, ihre Mutter frühzeitig zu verlassen, obwohl ihr das die Möglichkeit einer individuelleren und stressfreieren Entwicklung geboten hätte. Ob, wann und wie sich Jugendliche vom Elternhaus lösen können, hängt daher entscheidend von finanziellen und wirtschaftlichen, aber auch sozialen und emotionalen Aspekten ab.

In den höheren Sozialschichten spricht man heute oft vom „Hotel Mama“. Etwa ein Drittel der 25-jährigen lebt noch im Elternhaus (Kesselring, 2011, S. 558). Sie lassen sich weiterhin von der Mutter die Wäsche waschen und das Essen kochen, obgleich viele von ihnen bereits finanziell unabhängig sind und sich eine eigene Wohnung leisten könnten.

Dagegen erfährt jedoch ein Drittel der Jugendlichen meist noch während ihrer Kindheit Trennung und Scheidung der Eltern (Hurrelmann, 2004, S. 111). Diese Veränderungen von Familienstrukturen und Partnerbeziehungen der Eltern prägen die Vorstellungen der Jugendlichen davon, wie sie sich später verhalten wollen. Wenn sie eine Scheidung ihrer Eltern erlebt haben, verlieren sie das Vertrauen in die Absolutheit von Ehe und Familie.

Dagegen stellt die Shell-Studie fest, dass 74% der befragten Jugendlichen ihre Kinder ebenso erziehen würden, wie sie selbst erzogen wurden. Für einen sehr hohen Prozentsatz der Jugendlichen haben die Eltern also Vorbildfunktion, und das bedeutet, dass sie auch als Berater und Unterstützer von den Jugendlichen wahrgenommen werden. Damit drücken die Jugendlichen auch Vertrauen und Anerkennung gegenüber ihren Eltern aus. „Ganz offensichtlich haben es die allermeisten Eltern verstanden, auf die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Kinder angemessen zu reagieren und das richtige Ausmaß von Anleitung und Förderung zu geben.“ (Leven, Quenzel, & Hurrelmann, 2015, S. 54). Auch hier sind die Antworten wieder abhängig von der sozialen Herkunft: Nur 47 % der Jugendlichen aus der unteren Schicht sind mit der Erziehung durch ihre Eltern einverstanden, aber 87 % der Jugendlichen aus höheren Sozialschichten. Die Kluft zwischen den Jugendlichen aus privilegierten und benachteiligten Familien wurde im Laufe der Zeit immer größer, das heißt, dass auch die soziale Ungleichheit wächst (ebd., S. 54).

Die Neigung, eine eigene Familie gründen zu wollen, geht jedoch nicht konform mit der Zufriedenheit der Herkunftsfamilie. Nur noch 63 % der Befragten stimmt der Aussage zu: „Man braucht eine Familie, um glücklich zu sein“ (ebd., S. 56). Hier sind es vorwiegend die einheimischen Jugendlichen, die eher keine eigene Familie anstreben. Jugendliche mit Migrationshintergrund dagegen stimmen zu 71 % der oben genannten Aussage zu. Leven, Quenzel und Hurrelmann vermuten, dass die vielfältigen Anforderungen im Schul-, Ausbildungs- und Berufsbereich bei den Jugendlichen die volle Konzentration verlangen, und dass sich die jungen Leute vor einer zu anstrengenden Phase im frühen Lebensalter (Familie und Beruf) fürchten (2015, S. 59). Auch der Kinderwunsch wird schwächer. Auch hier unterscheiden sich die Jugendlichen bezüglich ihrer Sozialschicht: Aus der oberen Sozialschicht wünschen sich 76 % Kinder, aus der unteren Schicht nur 53 %.

Die Medien nutzen

Aus aktuellem Anlass und bezogen auf meinen Schwerpunkt „Beraten und Begleiten“ werde ich aus dem weiten Feld der Mediennutzung nur einen Aspekt herausgreifen: Was bringt Jugendliche dazu, zu Amokläufern zu werden?

Der Amoklauf eines Jugendlichen in München am 22. Juli 2016 ging durch die Weltpresse und diverse Internet-Foren, die hier im Einzelnen nicht aufgeführt werden können. Bekannt sind u.a. folgende Fakten: Der 19-jährige Schüler David erschoss neun Menschen und verletzte weitere vier Menschen, anschließend tötete er sich selbst. Bis auf eine Frau, waren alle Getöteten zwischen 14 und 20 Jahre alt. Alle neun Todesopfer hatten einen Migrationshintergrund.

Zwei Gesichtspunkte drängen sich mir auf, auf die ich kurz eingehen möchte:

David hat sich ganz offensichtlich durch die Medien inspirieren lassen. Zunächst durch die Berichte, Texte, Bilder und Filme über den Amoklauf in Norwegen. Löste das bei der Mehrheit der Menschen nur Entsetzen aus, so gibt es offensichtlich insbesondere Jugendliche, die in dem Täter einen Held sehen und glauben, ihre ganz persönlichen Lebensprobleme lösen zu können, in dem sie auch so ein „Held“ werden.

David hat sich aber auch von einem Print-Medium, einem Buch, inspirieren lassen. Der Autor Peter Langmann ist Psychologe und Gutachter, er analysiert auf wissenschaftlicher Basis, weshalb sich Jugendliche zu einem Amoklauf entscheiden. Es ist ein wissenschaftliches Werk und Langmann zeigt auf, dass nicht Waffenbesitz, Mobbing, Computersucht oder Vernachlässigung die ausschlaggebenden Faktoren sind, sondern komplexe Phänomene (Langmann, 2009, S. 46/47). Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass Schulamokläufer psychisch schwer gestört seien. Nach der Analyse des Autors lassen sich die Täter drei Gruppen zuordnen: den psychopathischen, den psychotischen und den traumatisierten Amokläufern (ebd., S. 52). Jugendliche Amokläufer neigen zwar häufig zu Gewaltspielen daher kann das virtuelle Töten die Täter für reale Gewalt desensibilisiert haben. Doch sie müssen bereits vorher labil und verzweifelt gewesen sein. Die Persönlichkeitsstörung ist daher viel eher der Auslöser dafür, dass so großes Interesse an Gewaltspielen besteht, als dass die Gewaltspiele die Ursache für einen Amoklauf sind.

Es macht also wenig Sinn, einfache Schuldzuweisungen auszusprechen: Schuld sind nicht die Eltern, nicht das Internet, nicht die Horrorfilme (ebd., S. 37). Menschen mit psychischen Störungen suchen nach Vorbildern und nach Rechtfertigungen ihrer geplanten Taten, und sie werden das immer „irgendwo“ finden, denn es sind keine spontanen, sondern lange geplante Handlungen. Auch die Sozialschicht ist kein Indikator, denn jugendliche Amokläufer kommen aus allen Sozialschichten.

Offenbar spielen Stress und ungerechtes Lehrerverhalten für Amokläufe an Schulen jedoch eine stärkere Rolle als bisher angenommen, und es stellt sich die Frage, weshalb diesen Jugendlichen nicht geholfen wurde, bevor sie zu Tätern wurden. Es wird kritisiert, dass das Zusammenspiel von Eltern, Freunden, Schule und dem restlichen Umfeld nicht mehr funktioniert. Es hat sich eine Kultur des „Wegsehens“ etabliert, anstelle einer Kultur des „Hinsehens“.

Klaus Hurrelmann, der das Vorwort zur deutschen Fassung des Buches von Peter Langmann geschrieben hat, wurde in einem Interview mit der Schweizer Zeitung “Sonntags Blick” gefragt: Hätte das Blutbad von München verhindert werden können? (Hamburger Morgenpost vom 24.07.2016). Eine schwere Frage, die sich Eltern, Freunde, aber insbesondere auch Lehrerinnen und Lehrer des Schülers David stellen müssen. Ich meine, dass sie nicht mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden kann. Wenn ein junger Mensch keine Hilfe sucht, ist es auch für professionelle Pädagogen schwer, zu erkennen, dass er Hilfe braucht und vor allem den richtigen Zeitpunkt einer Hilfeleistung einzuschätzen. Jeder Amokläufer sende vor der Tat Signale aus, erklärt Hurrelmann im zitierten Interview. Die müsse man erkennen und richtig deuten können, denn eine solche Tat hat eine lange Vorbereitungszeit. Zu diesen Signalen gehörten Rückzug, kritische Äußerungen, Aggressionsdrohungen. Oft gebe es auch Vorankündigungen der Tat. Das Problem: Die Menschen im Umfeld sind mit dem Täter vertraut, sie nähmen die Signale nicht ernst.

Klaus Hurrelmann ist der Meinung, dass diese Tat hätte verhindert werden können, und es ist davon auszugehen, dass er sich persönlich betroffen fühlt, da er ein Vorwort zu einem Buch schrieb, das offensichtlich den Täter zu seiner Tat inspirierte.

Im Fall Marica war es die Aufmerksamkeit ihrer Umwelt, die ihr geholfen hat, ihre persönliche Lebenssituation zu bewältigen. Die Verwandten, die Leiterin des Frauenhauses und die Lehrerinnen und Lehrer haben hingesehen und zum richtigen Zeitpunkt erkannt, dass Marica Hilfe braucht. Auch Marica hätte einen ganz anderen Weg gehen können. Doch sie hat sich offen für die Hilfsangebote gezeigt. Es ist nicht bekannt, ob nicht auch David (alias Ali) von Lehrkräften angesprochen wurde, und ob nicht auch ihm Hilfsangebote gemacht wurden. Möglicherweise hat er sie abgelehnt oder gar nicht wahrgenommen.

Auch wenn es keinen Sinn macht, bei solchem Extremverhalten wie einem Amoklauf, Schuldzuweisungen auszusprechen, so sollte diese Tat doch Lehrerinnen, Lehrer, Sozialpädagogen, Schulpsychologen, Freunde aufrütteln und alle sollten sich fragen: Was kann ich in meinem Umfeld tun, um eine solche Tat zu verhindern?

Beratungs- und Gesprächskompetenz kann in der Lehrerausbildung und insbesondere auch in der Lehrerweiterbildung leider immer noch entweder gar nicht oder in viel zu geringem Umfang erworben werden. Zu dieser Kompetenz gehört auch das genaue Hinsehen, das aufmerksame Beobachten von Verhaltensänderungen. Gerade die oft schroffe und abwehrende, ja verletzende Haltung männlicher Jugendlicher sogenannten Autoritätspersonen gegenüber, verleitet auch professionelle Pädagogen dazu, ebenfalls abwehrend zu reagieren. Gerade dann besonders genau hinzusehen, Fragen zu stellen und sich nicht durch Abwehr irritieren zu lassen, zeichnet den professionell handelnden Pädagogen aus.

Nach solchen Amokläufen ertönt in der Regel wieder verstärkt der Ruf danach, Anti-Gewaltprogramme in den Bildungseinrichtungen einzusetzen. Dollase geht in einer Studie kritisch mit den zahlreichen nationalen und internationalen Anti-Gewaltprogrammen um, obgleich die Programme die Praktiker mit Ideen versorgen und ihr Einsatz das Image von Professionalität hat. Der Erfolg hängt jedoch von der Persönlichkeit des Anwenders ab (Dollase, 2010, S. 109), und auch evaluierte Programme können vollständig versagen, wenn sie nicht in den Alltag der Praxis passen (ebd. S. 113). Dollase weist darauf hin, dass ein interpersonelles Fähigkeitstraining für junge aggressive Menschen nur dann positiv ist, wenn es dazu führt, dass man überlegt, was man tut und nicht spontan reagiert, und wenn über Veränderungsmöglichkeiten reflektiert wird und die Kontrolle der eigenen Emotionen gelernt wird (ebd., S. 214).

„Schüler, Eltern und Lehrer müssen insbesondere lernen, die unvermeidlichen Frustrationen, die durch das Zusammenleben entstehen bzw. auch dadurch, dass man (…) schlechter ist als andere, zu beherrschen: ‚anger management‘ ist auch in der internationalen Forschung eine zentrale und vor allem wirksame Präventionsaufgabe“ (ebd., S. 117).

Entscheidend ist auch, wie der Erwachsene mit dem Jugendlichen umgeht, ob er ihm gegenüber Wertschätzung ausdrückt, auch wenn der Jugendliche nicht seinen Vorstellungen entspricht. Dollase spricht von der Identifikation mit dem „erweiterten Selbst“ und meint damit kulturelle Vorlieben, Nationalitäten, Religionen, durch die Heterogenität zum Ausdruck kommt.

„Toleranz gegenüber dem erweiterten Selbst im engeren Sinne ist gefragt, d.h. in einer kulturell heterogenen und pluralen Gesellschaft kann und darf es nur zivilisiert vorgetragene Angriffe auf das erweitere Selbst geben. Schüler und Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen und Eltern müssen lernen, auf die Kritik und die Veränderung von funktional nicht relevanten Aspekten des erweiterten Selbst zu verzichten bzw. ihre Meinungsäußerungen zu zivilisieren. Ob ein Mensch mir sympatisch ist oder nicht – es darf kein Anlass für den Versuch der Änderung oder Herabsetzung des anderen und seines erweiterten Selbst sein“ (ebd., S. 118). Die Sichtung zahlreicher Studien hat gezeigt, dass es nicht in erster Linie die gesellschaftlichen Kräfte sind, an denen junge Menschen scheitern, sondern an dem, „was Lehrer, Pädagogen, Eltern, Polizisten im Kontakt mit anderen tun und wie sie sich gegenseitig beeinflussen“ also an der Interaktion von Mensch zu Mensch (ebd., S. 118).

Dollase u.a. führten eine Studie durch, die belegte, dass z.B. der Einfluss von Lehrern auf Fremdenfeindlichkeit dreimal so stark ist wie gesellschaftliche Faktoren (Dollase u.a. 2000).

Um jedoch nicht ein falsches Bild von der Jugend in Deutschland entstehen zu lassen, möchte ich noch betonen, dass es sich bei David um eine Einzeltat handelt, die in keiner Weise ein Bild von den Jugendlichen im Ganzen zeichnet. Im Gegenteil: Entgegen der allgemeinen Annahme, Jugendliche würden z.B. vom Internet beherrscht und dadurch zu Aggression und Gewalttaten angeregt, stellt die Shell-Studie fest, dass die Relevanz des Internets zwar sehr hoch ist, dass aber die Geselligkeit, also sich mit Freunden zu treffen, an der Spitze steht ( Leven & Schneekloth, 2015, S. 112).

Es gibt verschiedene Gruppen von Jugendlichen: Die geselligen Jugendlichen (30 %), die Medienfreaks (27 %), die Familienorientierten (24 %) und die kreativen Freizeitgestalter (19 %). In allen Gruppen verteilen sich die Jugendlichen ziemlich gleichmäßig über alle Herkunftsschichten (vgl. Leven & Schneekloth, 2015, S. 115 ff). Trotz dieser Unterschiede spielt sich die Freizeit der Jugendlichen entweder direkt online ab oder sie sind online. Die wöchentliche Nutzung des Internets steigt jedoch stetig weiter an.

Entgegen der häufig geäußerten Meinung, das Internet würde unkritisch machen und isolieren, wurde festgestellt, dass doch immerhin 39 % der in der Shell-Studie befragten Jugendlichen gegenüber den Strukturen des Internets kritisch eingestellt sind (ebd., S. 132) und dass die soziale Isolation nicht häufiger geworden ist. Außenseiter hat es immer schon gegeben (Albrecht & Hurrelmann, 2014, S. 159).

Es ist nach wie vor die Aufgabe der Erziehungsberechtigten und der Bildungsinstitutionen, den Medienkonsum und das Verhalten von Kindern und Jugendlichen Medien gegenüber zu kennen, ggf. zu kontrollieren und zu steuern. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der Menschen, die nicht medial verbunden oder integriert sind, vom sozialen und kulturellen Leben weitgehend ausgeschlossen sind“ (Mikos, Winter & Hoffmann, 2007, S. 7). Kinder und Jugendliche müssen daher lernen, mit Medien umzugehen, denn „Medien eröffnen temporäre und kontingente Felder der Identifikation, die mit libidinösen Energien, Affekten und Phantasien verknüpft werden … Medien helfen, Identitäten zu konstruieren“ (ebd., S. 7). Wichtig ist, das gemeinsame Gespräch über das, was durch die Medien erlebt und erfahren wird, welche Normen, Werte und Rollenbilder implizit sowie explizit vermittelt werden und wie sie die je eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen beeinflussen. Es ist für Erziehungsberechtigte und professionelle Pädagogen zweifellos schwer, die jugendlichen „Subkulturen“ nachzuverfolgen und zu verstehen, was sich in den jugendlichen „Szenen“ abspielt. Entscheidend ist jedoch nicht, alle Musikrichtungen, Filme und Videospiele selbst zu kennen, sondern zu erkennen, wann ein Jugendlicher von einer medialen Richtung in seinem Denken und Handeln beherrscht wird. Hier rechtzeitig einzugreifen und zu steuern ist eine der größten Herausforderungen vor die sich das Elternhaus und die Bildungsinstitutionen gestellt sehen.

Wertorientiert handeln und politisch partizipieren

In der Zeitung „Die WELT“ vom 15.09.2014 steht als Überschrift: „Die Jugendlichen von heute wirken wie Zombies. Sie sind orientierungslos und ziemlich gleichgültig: Wer heute zur jungen Generation zählt, irrt oft durchs Leben. Ohne Drive und Pfeffer, aber mit großem Appetit auf Lob und Anerkennung.“ Solche plakativen Schlagzeigen geben ein unhaltbares, verzerrtes Bild von der Jugend wieder. Seriöse wissenschaftliche Studien dagegen bezeichnen die Mehrheit der Jugend in Deutschland als sehr diszipliniert, als konstruktiv, anpassungsbereit, leistungsmotiviert und zukunftsbewusst. Die jungen Menschen wollen etwas aus ihrem Leben machen, und sie wollen die Eltern nicht enttäuschen (Kesselring, 2011, S. 550). Auch das ist wiederum abhängig vom Sozialstatus, d.h. von den materiellen und sozialen Ressourcen des Elternhauses.

Generell lässt sich aber auch feststellen, dass das eigene Individuum im Zentrum jugendlichen Handelns steht und man auch von einem Egokult bei Jugendlichen sprechen kann. Es fehlt oft an Normen und Stabilitätsfaktoren (Kesselring, 2011, S. 549). Die dauerhafte Auseinandersetzung mit unsicheren Zukunftshorizonten und ungewissen Lebensperspektiven führt in der jungen Generation der 1985 bis 2000 Geborenen zu einer Mentalität des tastenden Sondierens und pragmatischen Ausprobierens von Alternativen. Laut Hurrelmann sind Jugendliche Egotaktiker, aber zugleich an einem guten Zusammenleben in der Gemeinschaft interessiert. Sie wollen für sich so viel Gewinn wie möglich und gehen dabei ganz nüchtern von ihren individuellen Wünschen und Bedürfnissen aus (Hurrelmann, 2000). Das Motto: „Gut leben zu wollen“ kann gleichzeitig auch bedeuten „Gut leben zu lassen“ und drückt damit die Fähigkeit zur Solidarität den Mitmenschen gegenüber aus.

In der Wertehierarchie von Jugendlichen stehen an erster Stelle: Freie Meinungsäußerung, Lebensgenuss, Kreativität, Abenteuer, Emanzipation, Mitsprache, Mitbestimmung, Lebensqualität, aber auch Freundschaft, Liebe und Treue sowie Humor.

Im Abseits stehen dagegen Werte wie: Disziplin, Anpassungsbereitschaft, Ordnung, Einfügen in soziale Strukturen, Unterordnung unter hierarchische Verhältnisse und Pünktlichkeit (Hurrelmann, 2000).

Die Shell-Studie stellt insgesamt einen „soliden Optimismus“ bei den Jugendlichen bezüglich ihrer persönlichen Zukunft fest. 61 % der Befragten gehen trotz der vielfältigen Sorgen und Ängste und trotz der Fülle an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen, davon aus, dass sie ihre eigene Zukunft bewältigen werden. Allerdings sind es auch hier wieder die Jugendlichen aus den höheren sozialen Schichten mit einer höheren Bildungsaspiration, die optimistisch denken (Leven, Quenzel & Hurrelmann, 2015, S. 100). Jugendliche mit Migrationshintergrund und ausländische Jugendliche sind deutlich pessimistischer bezüglich ihrer Zukunft als deutschstämmige Jugendliche.

Die größten Sorgen machen sich die Jugendlichen bezüglich Terroranschläge, Krieg in Europa und sozialer Ungerechtigkeit. Deutlich abgenommen haben dagegen in den letzten Jahren die Ängste vor einer schlechten Wirtschaftslage und vor Arbeitslosigkeit (ebd. , S. 95).

Die Mehrheit der Deutschen hat das Gefühl, eigene Traditionen und Werte seien in der jüngsten Vergangenheit vernachlässigt worden. Im Handelsblatt vom 07.07.2016 heißt es, dass rund 60 % der Deutschen ohne Migrationsgeschichte es demnach für wichtig halten, „dass wir unsere Identität, Werte und Eigenschaften wieder stärker in den Mittelpunkt rücken“. Daraus eine ausgrenzende oder gar rassistische Grundhaltung abzuleiten, wäre jedoch falsch. Es scheint den meisten Menschen eher darum zu gehen, sich angesichts verstärkter Kontakte mit Menschen aus anderen Kulturen darüber klar zu werden, „was unsere eigene Gesellschaft eigentlich ausmacht“.

Schlussgedanken

Deutschland steht derzeit an einem Scheideweg: Wollen die Deutschen Pluralität und offene Demokratie, das bedeutet eine freiheitliche, vielfältige und inklusive Gesellschaft? Wollen sie ein modernes Einwanderungsland werden, oder wollen sie einen neuen Nationalismus und Grenzziehungen, wie es in vielen europäischen Ländern bereits der Fall ist?

Beides ist derzeit denkbar. Viele Teile der Bevölkerung sind verunsichert, das führt dazu, dass sie sich den Rechtspopulisten zuwenden. Es ist wichtig, gerade die Jugendlichen politisch differenziert aufzuklären, damit sie nicht auf populistische und nationalistische Parolen hereinfallen. Wir brauchen politisch gebildete und differenziert denkende Jugendliche, um unsere freiheitliche Demokratie weiterhin aufrecht halten zu können.

Aus meinen Fallbeispielen ging auch ganz klar hervor, wie wichtig eine aufmerksame, für die Problemlagen von Jugendlichen offene Betreuung und Beratung durch Eltern, Verwandte, Lehrer, Trainer, Freunde, Nachbarn ist. Auch wenn sich die Jugendlichen noch so selbstbewusst und selbstsicher darstellen, so benötigen sie dennoch Fürsorge, Hilfe und Unterstützung, die sie nicht einengt, aber ihnen einen Weg zeigt, den sie gehen können.

Literatur

  • Demling, A. (2015): Wirtschaft sucht Arbeitskräfte. Diese Branchen hoffen auf die Flüchtlinge. In: Spiegel Online: URL: www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/fluechtlinge-diese-branchen-hoffen-auf-arbeitskraefte-a-1047238.html (abgerufen: 07.08.2015).
  • DIE WELT (2014): Die Jugendlichen von heute wirken wie Zombies. URL: www.welt.de/debatte/kommentare/article132237544/Die-Jugendlichen-von-heute-wirken-wie-Zombies.html(abgerufen: 15.09.2014).
  • Diers, M. (2016): Resilienzförderung durch soziale Unterstützung von Lehrkräften. Junge Erwachsene in Risikolage erzählen. Berlin: Springer Verlag.
  • Dollase, R., Ridder, A., Bieler, A., Köhnemann, I. & Woitowitz, K. (2000):Nachhall im Klassenzimmer. Zur relativen Unabhängigkeit der schulischen Intetgration vom Belastungsgrad der städtischen Umgebung. In: Heitmeyer, W. & Anhut, R. (Hrsg.): Bedrohte Stadtgesellschaften. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen. Weinheim: Juventa, S. 199-255.
  • Dollase, R. (2010): Gewalt in der Schule. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Graumann, O. (2001): Der personale Bezug in der Schule. Bedeutung eines alten Paradigmas in der heutigen Zeit. In: Graumann, O. & Mrochen, S. (Hrsg.): Schule in Not. Eine Institution auf der Suche nach Verbündeten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 88 – 110.
  • Hamburger Morgenpost (2016): Experte für Amokläufer: “München hätte verhindert werden können”. URL: http://www.msn.com/de-ch/nachrichten/vermischtes/experte-f%c3%bcr-amokl%c3%a4ufer-m%c3%bcnchen-h%c3%a4tte-verhindert-werden-k%c3%b6nnen/ar-BBuKqA5?li=BBqfZdU (abgerufen: 24.07.2016).
  • Handelsblatt (2016): Migranten in Deutschland fürchten Zukunft. URL: www.handelsblatt.com/politik/deutschland/fluechtlingskrise-migranten-in-deutschland-fuerchten-zukunft/13844470.html(abgerufen: 07.07.2016).
  • Hurrelmann, K. (2000): Die 10- bis 15-Jährigen – eine unbekannte Zielgruppe? In: Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen, IZI, Ausgabe: 13/2000/2 (siehe auch URL:www.br-online.de/jugend/izi/text/hurrel.htm).
  • Hurrelmann, K. (2004): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. 7. vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim und München: Juventa.
  • Hurrelmann, K. & Albrecht, E. (2014): Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert. Weinheim und Basel: Beltz.
  • Kesselring, G. (2011): Der Jugend von heute fehlt ein Feindbild. Eine kritisch, hermeneutische Betrachtung aktueller Erziehung und das möglicherweise fehlende Feindbild neuer Generationen. Dissertation Universität Bielefeld.
  • Langmann, P. (2009): Amok im Kopf: Warum Schüler töten. Weinheim [u.a.]: Beltz.
  • Leven, I., Quenzel, G. & Hurrelmann, K. (2015): Familie, Bildung, Beruf, Zukunft: Am liebsten alles. In: Shell Deutschland Holding (Hrsg.) (2015): Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch. Frankfurt: Fischer Taschenbuch, S. 47 – 110.
  • Leven, I. & Schneekloth, U. (2015): Freizeit und Internet: Zwischen klassischem „Offline“ und neuem Sozialraum. In: Shell Deutschland Holding (Hrsg.) (2015): Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch. Frankfurt: Fischer Taschenbuch, S. 111 – 152.
  • Mikos, L., Winter, R. & Hoffmann, D. (2007): Einleitung: Medien – Identität– Identifikation. In: Mikos, L., Hoffmann, D. & Winter, R. (Hrsg.): Mediennutzung, Identität und Identifikationen. Die Sozialisationsrelevanz der Medien im Selbstfindungsprozess von Jugendlichen. Weinheim und München: Juventa, S. 7 – 20.
  • Shell Deutschland Holding (Hrsg.) (2015): Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch. Frankfurt: Fischer Taschenbuch
  • Statistisches Bundesamt (2015): Bevölkerungsstand. URL: www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/Bevoelkerungsstand.html (abgerufen: 10.09.2016).

Über die Autorin

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Olga Graumann: Erziehungswissenschaftlerin, Universität Hildesheim, Fachbereich I Erziehungs- und Sozialwissenschaften; Ehrenpräsidentin der International Academy for the Humanization of Education (www.uni-hildesheim.de/iahe/index.php/en/) (www.iahe.eu). Kontakt: jaugrau@uni-hildesheim.de

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