Individualität und Kooperation: Chancen und Herausforderungen gegenseitiger Ansätze

By Julia Koinova-Zöllner | February 26, 2017

Zusammenfassung: Kooperation und nicht Konkurrenz wird in Bildung und Forschung als ein Bildungsziel auf dem Weg zur Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz sowie als umfassende Grundbefähigung eines Menschen in Deutschland verstanden. Es geht hier um die inhaltliche Ausprägung von persönlichen und sozialen Kompetenzen jedes Einzelnen, welche eigenverantwortlich in Situationen des „Miteinanders“ zu erleben sind. Umso unvorstellbarer, dass russische Eltern Bildung zu Hause der Bildung in der Schule für Ihre Kindern bevorzugen. Im Beitrag werden Formen von sozialen Beziehungen und positiver Interdependenz dargestellt. Die Beispiele aus der eigenen Lehre zeigen die positive Wirkung der Kooperation und liefern Gründe weshalb Bildung in der öffentlichen Schule in Russland eher vermieden wird.
Schlüsselwörter: Familienbildung, Bildung, Kooperation, Interdependenz, Independenz

Summary (Yulia Koynova-Tselner: Individuality and cooperation: opportunities and challenges of mutual approaches): Education in school is the social institute for pupils which not only involves to impart knowledge, but it includes also the development of social skills. Unfortunately, it is that parents in Russia prefer for their children „family learning“ at home instead of sending them to school. The article discusses arguments in favour of cooperation between parents, teachers and science education in questions of education development. The theory of cooperation is a vital model of understanding social development instead of rivalry. It has both possibilities: development of individuality and development of mutuality by diversity. It is a way to support the reformation of education and of school. The reflexive student evaluations also nurture a positive mindset towards forms of cooperation.
Keywords: family learning; education, cooperation, interdependence, independence

Резюме (Юлия Койнова-Цёльнер: Индивидуальность и кооперация: шансы и вызовы взаимных подходов): Кооперация, а не конкуренция выступает целью школьного образования и педагогических исследований в Германии. При этом речь идёт о развитии важных для каждого индивидуума личностных и социальных компетенций, формирование которых возможно лишь в ситуациях межличностной интеракции „друг с другом“. Поэтому представляется весьма проблематичным решение родителей в России, которые добровольно отказываются от обучения своих детей в школе, отдавая предпочтение домашнему обучению, тем самым лишая своих детей опыта построения социальных отношений. В статье обсуждаются формы социальных отношений и преимущества положительной зависимости, выраженной в кооперативном взаимодействии. Примеры из студенческих рефлексивных документов иллюстрируют позитивные эффекты кооперации и имплицитно указывают на возможные причины отказа от обучения в российской школе.
Ключевые слова: семейное обучение, образование, кооперация, интердепенденция (взаимозависимость), индепенденция (независимость)


Schulbildung und/oder Familienbildung

In der russischen „Lehrerzeitung“ (russ.: Учительская газета) vom 7. Juni 2016 wurde eine ganze Seite dem Thema „Bildung in der Familie“ gewidmet. Im Russischen heißt das:„семейное образование“, und bedeutet eine Art „home learning“ bzw. „individuelle Bildung für Schulkinder zu Hause“. Die Autorin Jakovleva [Яковлева] verweist in ihrem Artikel auf die immer weiter wachsende Popularität der Familienbildung in Russland und stellt fest, dass zum Beispiel im Jahre 2010 im Gebiet Omsk nur 11 Familien die individuelle Bildung für ihre Kinder zu Hause dem Schulbesuch vorgezogen hatten, im Jahre 2013 waren es schon 60 Familien, und im Jahre 2016 bereits 407 Familien (Яковлева [Jakovleva], 2016, S. 5).

Russische Eltern erhalten dafür monatlich vom Staat folgende Vergütung:

  • Für einen/eine GrundschülerIn: 7.816 Rubel (entspricht z.Zt. ca. 112 €, Anm. Autorin),
  • für einen/eine SchülerIn der Sekundarstufe I: 9.770 Rubel (ca. 140 €),
  • für einen/eine SchülerIn der Sekundarstufe II: 11.724 Rubel (ca. 167 €).

Das Grundprinzip solcher „Familienbildung“ besteht darin, dass die Eltern für die Qualität der Bildung Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass das Schulkind die Schulfächer zu Hause lernt und am Ende des Schuljahres Prüfungen ablegt. Abhängig von der Klassenstufe können es dabei bis zu 16 Prüfungen am Ende des Schuljahres sein. Meinungsäußerungen der Schulkinder selbst zu dieser Form der Familienbildung fehlen jedoch im Text. Vielmehr geht es in dem Bericht um die Frage, ob Bildung zu Hause durch das Elternhaus als ein Weg Geld zu verdienen oder eine Möglichkeit der qualitativen Bildung zu betrachten ist. Die Meinungen von Eltern und Vertretern des Bildungsministeriums zum Thema „individuelle Bildung zu Hause“ fallen unterschiedlich aus, wie die Autorin schildert. Die russischen Schulbehörden überwachen die Individual-Schüler nach festgelegten Richtlinien mittels Prüfungen, zahlen die Schulgelder an die Eltern aus, bezweifeln aber dabei, ob alle Familien das Geld zweckgebunden verwenden. Die Wissensvermittlung in der Schule ist jedoch nach Meinung der Eltern unzureichend, und die meisten Eltern schicken ihre Kinder deshalb regulär zum privaten Unterricht.

Zweifellos müssen die Schüler und Schülerinnen außerschulisch individuell gefördert werden, wenn dafür ein besonderer Bedarf besteht. Individuelle Förderung ist dann jedoch in den meisten Fällen als eine temporäre Aufgabe zu betrachten. Fragt man in Russland danach, ob es bei der Bildung in der Familie um eine temporäre individuelle Förderung von Schulkindern im Sinne eines Nachhilfeunterrichts geht, so finden sich kontroverse Meinungen. Es wird fast immer betont, dass individuelle Förderung notwendig sei, um „gute“ Noten zu bekommen und außerdem, um das Kind vor psychischer und physischer Gewalt in der Schule zu schützen. Obwohl im genannten Artikel als Gegenargument zur häuslichen individuellen Bildung fehlende Möglichkeiten, soziale und kommunikative Kompetenzen zu erwerben, genannt werden, begrüßt die Verfasserin selbst diese Bildungsform und untermauert ihre Meinung durch Elternäußerungen wie z.B.:

Kinder wachsen zu Hause auf, das ist die beste Erziehung. Schule bietet dagegen praktisch keine Erziehung. […] Wir, die Eltern, wählen diese Form der Bildung, weil die Lehrerschaft wegen enormer Belastung professionell ausgebrannt ist und die Klassen überfüllt sind. […] Wir, die Eltern, sorgen für die Bildung unserer Kinder, sorgen für einen qualitativen privaten Unterricht und eine Zusatzbildung unter komfortablen Bedingungen […] (ebd., S. 5).

Die schwerwiegenden Vorwürfe, wie „keine Erziehung“, „professional ausgebrannte Lehrer“, „überfüllte Klassen“, offenbaren die Unzufriedenheit der Eltern. Das kann die Folge für das Misstrauen von Eltern gegenüber der russischen Schule als soziale Bildungsinstitution. Ob die staatliche Schule in Russland als Einrichtung (Meta-Ebene) und/oder das Angebot an der Schule (Meso-Ebene), und/oder die didaktischen Arrangements von Lehrern (Micro-Ebene) Ursachen des Misstrauens sind, ist nicht klar. Forschungsdaten dazu konnten nicht gefunden werden. In der Presse und Öffentlichkeit wird allerdings für alle Probleme in der Schule primär den Lehrkräften die Schuld gegeben, obwohl die russische Schule als soziale Institution seit den 90-er Jahren nicht ihre beste Zeit erlebt (Koinova-Zöllner, 2003).

Das hängt sicher auch damit zusammen, dass die russische Gesellschaft insbesondere in der Zeit der Perestroika großen Veränderungen ausgesetzt war, die in den Einstellungen der Menschen zu ihrer Arbeit und ihrem Alltag zum Ausdruck kamen: mehr Egozentrismus, Unsicherheit, wirtschaftliche Not, Kampf ums Überleben, aber u.a. auch Offenheit (Glasnost), politische Freiheiten, neue Verantwortlichkeiten, mehr Selbständigkeit.

Dennoch legen die meisten Eltern Wert auf die Vergangenheit, weil diese die Sicherheit und positive Erinnerungen bietet. Veränderungen wurden, besonders in Russland, als angsteinflößend wahrgenommen und sind mit negativen Gefühlen und Verlusten verbunden. Ein Beispiel dafür ist die Einführung der „einheitlichen staatlichen Prüfung“ (russ.: ЕГЭ = единый государственный экзамен). Laut der aktuellen Befragung von Golodez sind 66% der Russen gegen die Einheitsprüfung und nur 15% dafür (Golodez [Голодец], 2014). Vergleicht man dabei die Daten hinsichtlich des Alters der Befragten, so gehören zu den Befürwortern der staatlichen Prüfungen die Bürger, die unter 30 Jahre alt sind. Zu den Gegnern zählt dagegen die Generation zwischen 31 und 60 Jahren. Auf den ersten Blick könnte diese Tatsache als Konflikt der Generationen bezeichnet werden. Die Interviews mit den russischen Bürgern zeigen aber, dass die Abneigung gegenüber der Einheitsprüfung als Frustration auf die Qualität der Bildung heute zu bewerten ist (ebd.). Die ältere Generation erinnert sich an ihre Schulzeit, in welcher sie meint, eine „bessere Bildung“ erhalten zu haben: mehr Vermittlung von Wissen und kostenlos.

Schulbildung und Bildungsziele

Die gesellschaftlichen Bedingungen und die Rolle der Schule als Institution ändern sich jedoch rasant (Koinova-Zöllner, 2003). Bildungsziele müssen nicht nur neu definiert, sondern auch der Öffentlichkeit bzw. den Eltern, vermittelt werden. Normalweise werden sie auf der Basis der Bedeutung von Wissensbeständen und der Lernkultur einer Gesellschaft formuliert. Leider finden Fragen zur Lehr-Lernkultur noch keinen Platz in der russischen Presse und Erziehungswissenschaft.

Schulbildung ist in Russland also ohne Schulbesuch generell möglich, weil Prüfungen dort scheinbar zum wichtigsten Maßstab der Bildungserfolge/Bildungsziele geworden sind, wie die Einführung der staatlichen Einheitsprüfung zeigt (Koinova-Zöllner & Donezkaja, 2016). Wenn aber Schulbildung und Bildungsziele verändert werden sollen, dann muss folgerichtig auch das Schulsystem verändert werden, da Bildung eben nicht nur Wissensstoff umfasst, sondern auch Organisationsformen. Obwohl die russische Verfassung „kostenloses Bildungsrecht“ festlegt, wird die Organisation der Bildung im Gesetz nicht explizit erklärt:

„Die grundlegende allgemeine Bildung ist obligatorisch. Die Eltern oder die ihre Stelle einnehmenden Personen müssen sicherstellen, dass die Kinder in den Genuss der grundlegenden allgemeinen Bildung gelangen […]“ (übers. aus der Russischen Verfassung, Artikel 67e).

Somit lässt sich die Elterninitiative nicht als gesetzeswidrig betrachten, sondern als Schlussfolgerung, da es laut Verfassung nicht um Schulpflicht, sondern um allgemeine Bildung geht. Die Verantwortung des Staates in Bezug auf Schulbildung wird hier nicht angesprochen, nur die der Eltern.

In Deutschland gehört das Wort „Bildung“ ohne Zweifel zu den am häufigsten benutzten Begriffen. „Bildung“ ist weit gefasstund schließt fachbezogene Widersprüche ein, so dass es nicht möglich ist, in Kürze eine Übersicht und/oder einen angemessenen Terminus zu definieren, der an Bildung gestellte Bedingungen enthält. Anzumerken ist aktuell ein verstärkter Widerspruch zwischen der Tradition der europäischen humanistischen Bildungsphilosophie und den wirtschaftlich orientierten Bildungstheorien, welche die Qualität des Menschen abhängig von seinem Wissen und Können auf konkurrenzbasierter Grundlage bewerten. Im Prinzip ist Bildung entsprechend dem bildungshumanistischen Ansatz auf Individualität bezogen und der Gedanke, dass Bildung vom Subjekt ausgeht und von der Entwicklung sowie Förderung seiner Möglichkeiten, nach wie vor aktuell. Das Problem war und ist, ob man Bildung individualistisch betrachtet und die Ansprüche der Gesellschaft dabei ignoriert, oder ob Bildung von den gesellschaftlichen Ansprüchen her sowie den subjektiven Bildungsbedürfnissen definiert wird. Hier sind Gegensätze zu erkennen. Humanistisch gesehen gilt Bildung als Befreiung des Selbst. Bildung als Vorbereitung zum Leben in der Gesellschaft dagegen beinhaltet nur bedingt die Freiheit des Individuums und verlangt seinen Preis in der Anpassung an vorgegebene Verhältnisse (Wulf, 1989, S. 68).

Die aktuellen Beiträge zum Thema Bildung in der russischen Presse deuten auf die Kontroverse hin. Dabei wollen die Eltern ihre Kinder vor den „gegebenen Verhältnissen“ in der öffentlichen Schule schützen, in denen es hauptsächlich um Konkurrenz geht, so z.B. im Beitrag von Loginowa [Логинова] unter dem Titel „Konkurrenz ist die Kraft der Entwicklung“ (Lehrerzeitung [Учительская газета, 2016]). Die Autorin verweist darauf, wie russische Staatsmänner Bildungsziele formulieren.

So ist für Präsident Putin „die Entwicklung der Konkurrenzfähigkeit wichtig“. Vizepräsident Medwedew betont, dass „wir brauchen eine neue Schule brauchen, die nicht nur persönliche Fähigkeiten zu entdecken hilft, sondern auch auf große Konkurrenz im Leben vorbereitet, eine Schule, die für sich zu kämpfen lehrt und eigene Ideen zu realisieren übt“ (zitiert in: Loginowa [Логинова]2016, S. 8) .

Individualität versus Kooperation

Mag sein, dass in der Zeit des Kalten Krieges und des Wettstreits im Weltall die Konkurrenzfähigkeit als Strategie erfolgreich war. Aktuell wurde in der deutschen Schule das konkurrenzorientierte Verhalten zugunsten der Kooperation und das ergebnisfixierte Verfahren zugunsten eines prozess- und ergebnisorientierten Verfahrens abgelöst (Jürgens, 2000; Klafki, 1985; Winter, 2004).

Leider ruft das Thema Kooperation in der russischen Forschung insgesamt wenig Begeisterung hervor, unabhängig davon, ob es um eine vertikale, horizontale Kooperation oder Kohärenz zwischen vertikaler und horizontaler Kooperation in der Bildungslandschaft geht. Ist es das historische Erbe, welches die Kooperation als Potenzial zur Entwicklung behindert? Oder wird befürchtet, dass Kooperation die Individualität ausschließen könnte und, dass Kooperation den Verlust der Individualität bedeutet?

Die Forschung zur Kooperation wird in Deutschland aktuell besonders aktiv gefördert (u.a. KMK, 2004; KMK&HRK, 2015; Horster & Rolff, 2001; Rothland, 2012; Fussangel & Gräsel, 2011; Richter & Pant, 2016).

Phänomenologisch gesehen ist Kooperationsfähigkeit sowohl ein soziales als auch ein persönliches Merkmal. Es geht hier um die inhaltliche Ausprägung von mehreren persönlichen Kompetenzen, welche eigenverantwortlich in Situationen des „Miteinanders“ zu erleben sind. Demzufolge wird Kooperationsfähigkeit nicht nur als soziale Interaktionsform, sondern als Grundbefähigung einer Person zur Synthese eigener Aktivität unter Einwirkung von Anderen im sozialen Handlungsprozess zum Vorteil des Erreichens eines gemeinsamen Ziels definiert (Koinova-Zöllner & Kranz, 2016). Das kann nur in der Zusammenarbeit mit der Gesellschaft bzw. der Gruppe stattfinden. Theoretisch gesehen geht es hier um zwei theoretische Konstrukte, den Individualismus – „Ich“ und die soziale Beziehung „Ich – die Anderen“. Die Herausforderung für das Individuum ist, die Kohärenz zwischen Autonomie und Heteronomie wahrzunehmen sowie den Stand der Entwicklung von sozialen Beziehungen auf unterschiedlichen Ebenen zu erfassen und zu reflektieren. Das gilt als Aufgabe der schulischen Bildung.

Das Thema war und ist relevant, und kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Dazu geäußert haben sich z.B. Tönnies (1855-1936), Simmel (1858-1918), Durkheim (1858-1917), Weber (1864-1920) und Elias (1897-1990). Außer den Prämissen über die existierenden Theorien soll man die Veränderbarkeit von sozialen Beziehungen eines Individuums in einer modernen Gesellschaft betonen, deren charakteristische Aspekte aktuell sind:

  • „Die Vervielfältigung der sozialen Beziehungen;
  • die Verlängerung der sozialen Beziehungen: 1) auf der einen Seite wird davon ausgegangen, dass sie über eine größere geografische Distanz stattfinden; 2) auf der anderen Seite werden „Mittel-Zweck-Reihen“ bzw. „Interdependenzketten“ länger: der Weg vom Wunsch zum Ziel impliziert eine ganze Reihe von vermittelnden Interaktionen;
  • die Vernetzung der sozialen Beziehungen; „Beziehungsnetz“;
  • die Vereinseitigung der sozialen Beziehungen;
  • die Versachlichung der sozialen Beziehungen: 1) die Anonymisierung sozialer Beziehungen. Relationen zwischen sich kennenden Personen werden seltener; Verhältnisse zwischen Unbekannten nehmen zu; 2) die Rationalisierung sozialer Beziehungen; 3) die Objektivierung von sozialen Beziehungen; 4) die Instrumentalisierung von sozialen Beziehungen;
  • die Entfremdung sozialer Beziehungen;
  • die Abstraktheit von sozialen Beziehungen;
  • die größere „Freiheitlichkeit“ sozialer Beziehungen.“ (Kippele, 1998, S. 203-204).

Demgemäß sind soziales Lernen und Entwicklung von sozialen Kompetenzen eines Individuums eine pädagogische Aufgabe. Diese Intention ist normativ, weil das Individuum die eigene Entwicklung im Sozialraum gestaltet und dabei auf die Rückmeldung von anderen angewiesen ist. Diese Ausbalancierung „Ich“ – „Ich – Andere“ bedeutet soziale Interdependenz wahrzunehmen. Die Grundannahme der Theorie von sozialer Interdependenz ist das Postulat, dass jeder Mensch in sozialen Beziehungen lebt, diese bewusst oder unbewusst wahrnimmt. Wir streben nach Individualität und gleichzeitig nach Zugehörigkeit, nach Kooperation mit Anderen, weil wir alle auf Andere angewiesen und von Beziehungen sowie Anerkennung durch Andere abhängig sind (Johnson & Johnson, 2008). Eine Ausgangsbedingung bei sozialer Interdependenz ist die individuelle Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln. Nicht jede Gruppen- oder Partnerarbeit ist als Kooperation zu bezeichnen. Entscheidend für Kooperation sind nach Johnson & Johnson (2008) fünf Basiselemente:

  • positive Interdependenz,
  • individuelle Verantwortlichkeit,
  • direkte Interaktion,
  • angemessene soziale Kompetenz und,
  • Gruppenreflexion.

Die Art der sozialen Interdependenz kann unterschiedlich sein. Johnson & Johnson bestimmten folgende Formen von sozialer Interdependenz und Independenz:

  • Negative Interdependenz: Konkurrenz bedeutet gegenseitiges Hindern am Erreichen der Ziele, destruktives Handeln, Konkurrenz, Entmutigung und Vermeidung von Beziehungen mit Anderen. Konkurrenz führt zur „win – lose – Situation“, d.h. es kann nur einer gewinnen, der andere verliert.
  • Fehlende Independenz: Vermeidung bedeutet das Erreichen eigener “Ich-bezogener“ Ziele, keinen Austausch und Passivität gegenüber der Gruppe sowie individualistisches Handeln. Die Situation „lose – lose“ kündigt an, dass keiner gewinnen kann.
  • Positive Abhängigkeit: Kooperation bedeutet gegenseitige Unterstützung beim Erreichen der Ziele, konstruktives Handeln und gegenseitige Hilfe sowie persönliche Verantwortung, unterstützende Interaktion und Ermutigung. Das ist eine „win – win -Situation“.

Positive Abhängigkeit / Interdependenz gilt als „Herzelement“ der Kooperation. Dabei kann der Weg zur positiven Interdependenz=Kooperation durch das Ziel-Interdependenz, die Belohnungs-Interdependenz, Ressourcen-Interdependenz, Identitäts-Interdependenz, Interdependenz durch äußere Bedingungen unterstützt werden:

Interdependenz Handeln
Ziel-Interdependenz Das Ziel ist nur dann erreicht, wenn alle Mitglieder der Gruppe ihr Ziel erreichen. Für eine gemeinsame Aufgabe müssen sich alle Mitglieder der Gruppe auf ein Ergebnis einigen.
Belohnungs-Interdependenz Gemeinsame Belohnung und Lob für die gesamte Gruppe – und nicht einzelner Mitglieder.
Ressourcen-Interdependenz Verteilen von Aufgaben auf die Gruppenmitglieder, so dass die Aufgabe/ das Problem nur mit den Beiträgen aller gelöst werden kann.
Identitäts-Interdependenz Ein gemeinsames Logo bzw. der Name unterstützt die Entwicklung einer gemeinsamen Gruppenidentität.
Interdependenz durch äußere Bedingungen Zusammenhalt durch limitierte Materialien, Stoffe usw.

Tabelle 1: Formen einer positiven Interdependenz (nach: Lanphen, 2011).

Evolution der Kooperation

Die Frage ist, ob sich Kooperation in sozialen Beziehungen (= positive Interdependenz) entwickeln kann, wenn jedes Individuum sein eigenes Interesse vertritt. In einem Aufsatz ist Axelrod (1997) unter Bezug auf die Spieltheorie auf diese Frage eingegangen. Ein Spiel sollte den Spielern erlauben, wechselseitige Vorteile aus der Kooperation zu ziehen, aber es war auch möglich, dass der eine Spieler den anderen ausbeutet, oder dass keiner der Spieler kooperiert. Um solche „realen“ Situationen zu simulieren, lud der Wissenschaftler Experten aus der Spieltheorie ein, Computerprogramme für ein Gefangenendilemma-Turnier einzusenden. Es sollte ein Turnier simuliert werden, ähnlich einem Computer-Schachturnier. Jedes Programm sollte die Geschichte der bisherigen Interaktion zur Verfügung haben, und die Spieler konnten die Kenntnisse für die Entscheidung verwenden, beim nächsten Zug zu kooperieren oder zu defektieren. Es gab vierzehn Programme von Spieltheoretikern aus verschiedenen Fächern. Das Programm TIT FOR TAT gewann in erster Runde. „Bei TIT FOR TAT handelte es sich lediglich um die simple Strategie, mit Kooperation zu beginnen und danach jeweils das zu tun, was der andere Spieler beim vorherigen Zug getan hat“ (Axelrod 1997, S. VII). Nach erneuter Ausschreibung gab es eine zweite Runde mit 62 Programmen. TIT FOR TAT wurde abermals vom Gewinner der ersten Runde, Anatol Rapoport (1974) von der Universität Toronto, zugesandt. Das Programm gewann wieder. Schließlich kam Axelrod zu der Vermutung, dass diese Strategie nicht nur in Turnieren, sondern auch im wirklichen Leben erfolgreich sein könne. „Das würde bedeuten: Gegenseitigkeit ist eine ausreichende Basis für Kooperation.“ (ebd.). Im Buch wurde Kooperation als evolutionäre Strategie vorgestellt. Damit wurde bestätigt (Axelrod, 1997; Rapoport, 1974), dass sich Kooperation zwischen Individualisten entwickeln kann. Die Lösung ist, die Kommunikation nicht zu vermeiden und dem Menschen weiter vorzuschlagen, gemeinsam zu handeln. Dieses Verfahren kann in jeder Beziehung positiv ansteckend wirken (Rapoport, 1974).

Kooperatives Lehren und Lernen in der Lehrerbildung

In der Pilot-Studie „Ko-Le3“ (Kooperatives Lehren und Lernen in der Lehrerbildung) der TU Dresden wurde die Frage gestellt, ob sich Kooperation innerhalb einer Seminargruppe entwickeln kann (Koinova-Zöllner & Kranz, 2016). Dazu wurden drei soziale Beziehungssysteme auf den Gegenstand der Interdependenz anhand von studentischen Reflexionsdokumenten analysiert:

  • zwischen der Dozentin und Moderationsgruppe: peer-to-coaching,
  • innerhalb der Planungs- und Moderationsgruppe: peer-to-peer,
  • zwischen der Moderations-/ Planungsgruppe und der Seminargruppe als untergeordnete Gruppe von Studierenden: peer-to–peer-subordinate (Koinova-Zöllner & Kranz, 2016).

Bei der Auswertung wurde die Triade Denken, Handeln und Fühlen auf „Ich-bezogener“ Ebene analysiert, daraus wurde die Form sozialer Interdependenz bestimmt. Als „Kodiereinheiten“ dienten Kategorien wie „Bemühungen um Leistung“, „soziale Beziehungen“, „Psychische Ausgeglichenheit“ sowie „Besitz sozialer Kompetenz“. Hier folgen Beispiele von studentischen Reflexionen:

[…] Das Arbeitsklima innerhalb unseres Moderationsteams gestaltete sich als äußerst produktiv. Die Aufgabenverteilung erfolgte fair und in ähnlichem Umfang. Als besonders positiv empfand ich das Einbringen persönlicher Stärken. So konnte ich mein zeichnerisches Talent für das Ausgestalten der Lehrertypen einsetzen oder mich an der Gestaltung des Layouts für unser Handout beteiligen. Durch die Rückmeldungen der Seminarteilnehmerinnen habe ich erfahren, dass diese kreative Arbeit gewürdigt wurde und sehr positiv aufgefallen ist. Die Diskussionen zum Ablauf unseres Seminars waren konstruktiver Art. Wir einigten uns dadurch schnell auf einen Verlaufsplan. Als wir feststellten, dass sich einige Ideen in der 90-min. Seminarsitzung nicht umsetzbar erwiesen, haben wir gemeinsam die Moderation neu geplant. … Ich habe unsere Kooperation innerhalb der Gruppe als ausgeglichen und inspirierend erlebt. Ich denke, dass ich mein Potenzial und meine Stärke einbringen konnte und dadurch auch die Gruppe bereichert habe.i […]Die Kommunikation zwischen unserer Gruppe und der Dozentin verlief ebenfalls auf einer konstruktiven Ebene. Wir konnten mit einem gut durchgeplanten Konzept zur Vorbesprechung gehen und erhielten auf unsere Fragen und bezüglich einiger Unsicherheiten verwertbare Rückmeldungen, die wir in unsere Planung aufnehmen konnten. Auch die abschließende Reflexion der Seminarsitzung besprachen wir auf einer kritischen Ebene. Wir konnten uns zur Bewertung der Moderation äußern und die Kritik annehmen.ii […]

[…] Als ambivalent gestaltete sich das Lernklima während unserer Seminarsitzung. Die peer-group aus unseren Kommilitonen und Kommilitoninnen schien sehr unterschiedliche Einstellungen zur Thematik des Konzepts SOL (Selbstorganisiertes Lernen) mitzubringen. Das mag auch an unserem bewusst provokanten Unterrichtseinstieg gelegen haben. Unsere Absicht dahinter bestand darin, Emotionen hervorzurufen, um den Lehramtsstudierenden zu verdeutlichen, dass SOL ohne Anleitung bzw. Vorbereitung, und ohne eine Zielsetzung orientierungslos ist. […] Während einige Studierende einen demotivierenden Eindruck machten, gab es auch durchaus Seminarteilnehmer und Seminarteilnehmerinnen, die das Interesse an der selbstorganisierten Arbeit mit dem Materialpool zeigten. […] Leider gelang es uns nicht, die aufkommenden Emotionen so zu lenken, dass wir daraus eine Motivation aller hätten erreichen können […]iii.“ „[…] Die Arbeit innerhalb der Moderationsgruppe ist durchweg positiv zu bewerten. Die Arbeit war sehr konstruktiv. … Jeder von uns hatte zum abgesprochenen Zeitpunkt seine Aufgaben erledigt und brachte in der Planung gleichermaßen Ideen und Kritik ein […]“.

[…] Die Moderationsgruppe wurde in der zweiten Sitzung des Seminars zusammengesetzt. Obgleich die Kooperation nicht freiwillig eingegangen wurde, schien bei beiden Teammitgliedern der Wille zur erfolgreichen Umsetzung der Moderation vorhanden zu sein. Die Erarbeitungsphase verlief strukturiert und arbeitsteilig. Ich muss lernen, besser mit Abweichungen von meinem Plan umzugehen. Die eigene Leistung nicht zu unterschätzen und die Anforderungen an Partner oder Partnerin nicht zu hoch zu schrauben, sind die Quintessenz der Moderation und der Kooperation […]“iv.

[…] Meine Co-Moderatorin und ich kannten uns vor dem Seminar noch nicht und haben dementsprechend auch nicht an einem solchen Projekt zusammengearbeitet. Schon bei unserer ersten Besprechung war sehr schnell zu erkennen, dass meine Co-Moderatorin sehr genaue Vorstellungen von dem Ablauf der Sitzung hatte und auch nur bedingt dazu bereit war, Kompromisse einzugehen. Für mich kam dies sehr überraschend, da ich die Vorstellung einer gemeinsamen Erarbeitung hatte. Im weiteren Verlauf haben wir uns dann in gemeinsamer Absprache mit der Dozentin für die Methode der Lehrerkonferenz entschieden. Nach einer Pause, in der jeder für sich gearbeitet hat, trafen wir uns zu einer Sichtung des „Sachstandes“. Wie auch zu Beginn unserer Zusammenarbeit, hatte ich wieder Probleme mit dem Perfektionismus meiner Co-Moderatorin. Sie hatte wieder alles genau geplant und Abweichungen davon waren scheinbar nicht vorgesehen. Meiner Meinung nach gab es in einigen Punkten ein Missverständnis zwischen Aufwand und Nutzen. Dies bedeutet aber nicht, dass ich nicht auch versucht habe, mich so gut es geht vorzubereiten. […] Die Interaktion zwischen meiner Co-Moderatorin und mir lief also nicht immer reibungslos ab. Es gab verschiedene Vorstellungen bei der Umsetzung der Moderation. In Zukunft müssten wir uns wahrscheinlich beide etwas aufeinander zu bewegen […]“.

Interdependenz versus Independenz

Die meisten Beispiele von Reflexionen deuten darauf hin, dass Kooperation, im Sinne der positiven Interdependenz, stattgefunden hat. Die Beispiele zeigen auch, dass kooperative Interaktionen nicht ohne Kritik und/oder Konflikte möglich sind, d. h. „Situationen, wo mindestens ein Mitglied Unvereinbarkeiten im Denken, Vorstellen, Wahrnehmen, Fühlen oder Wollen empfindet“ (Mayer, 2006, S. 27). Entscheidend ist dabei, die Kommunikation wahrzunehmen und soziale Interdependenz nicht in Richtung sozialer Independenz zu steuern. Auch wenn es um Konflikte geht (s.o.) sollte man sich darum bemühen, sich am Kommunikationsprozess weiter zu beteiligen. Augsburger (1992) hat in seiner Forschung nachgewiesen, dass der Verhaltensstil der Konfliktvermeidung, d.h. soziale Independenz, kulturübergreifend der am stärksten vertretene Konfliktstil ist. Die Formen des Ausdrucks sozialer Independenz sind: Schweigen, Kontaktabbruch, Umstrukturierungen oder personelle Neubesetzungen (Augsburger, 1992, S. 236 in Mayer, 2006, S. 35). Independenz als Vermeidung der Kommunikation bedeutet hier Stagnation, schließlich nichts anderes als Stillstand, Passivität. Insgesamt haben die Ergebnisse der Studie bewiesen, dass überwiegend positive Interdependenz auf den zwei Ebenen peer-to-peer-group sowie peer-to–peer-subordinate-group die Seminararbeit bzw. Moderation bestimmte. Allerdings hatten sich 83% aller Studierenden bereit erklärt, eine gemeinsame Aufgabe nach der Grundannahme der Kooperation „think-pair-share“ zu übernehmen. Partiell gab es „Verluste“ während der Vorbereitung einer gemeinsamen Aufgabe. Von ausgestiegenen Studierenden gab es kein reflexives Schreiben, es sei denn eine elektronische Abmeldung, wie z.B.: „[…] es tut mir Leid Ihnen das mitteilen zu müssen, aber ich werde (ab) morgen nicht (mehr) am Seminar teilnehmen. X wird die Moderation allein durchführen. Es ist mir nicht leicht gefallen, diese Entscheidung zutreffen, weil ich ungern Kommilitonen “im Stich lasse”. Aber die Zusammenarbeit zwischen X und mir gestaltete sich besonders für meine Seite sehr schwierig und es harmonierte nicht[…].“

[…] ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, dass die Moderation so kurzfristig nicht mehr mit meiner Gruppe stattfindet. Die anderen Mitstreiterinnen wollten nicht mehr, weil sie schon sehr mit Verpflichtungen belastet sind. Was mich anbelangt, wollte ich gern die Moderation halten, habe den beiden dann aber zugestimmt, weil ich alleine die Zeit auch nicht mehr gehabt hätte[…]“.

Kooperation kostet Zeit. Zeit ist heute eine der teuersten Investitionen. Stimmt das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen? Den studentischen Meinungen nach lohnt es sich: „[…] ich empfand es als eine tolle Erfahrung, so intensiv mit meinen Kommilitonen im Seminar arbeiten zu können. Normalerweise kommt man in den meisten Seminaren mit niemand wirklich in Kontakt, außer eventuell mit den Vortragspartnern. Das empfinde ich meist als sehr schade, da man zwar viele Mitstudenten vom Sehen her kennt, aber oft gar nicht die Gelegenheit hatte, direkt ins Gespräch zu kommen. Ich fand es daher toll, dass wir in diesem Seminar alle so toll miteinander arbeiten konnten und ich viele Menschen aus meinem Umfeld näher kennlernen durfte. Durch den freundlichen und respektvollen Umgang miteinander wurde auch eine angenehme Arbeitsatmosphäre geschaffen. Ich empfand es zudem als interessante Abwechslung zu den üblichen Seminaren, dass wir selbst aktiv tätig wurden und das Seminar selbst mitgestalten konnten. Ich denke daher, dass die praktischen Erfahrungen, die ich im Seminar durch meine Moderation sammeln konnte, sich positiv auf meine künftige Lehrtätigkeit auswirken werden. Ein weiterer positiver Aspekt war die Betreuung und Hilfestellung der Dozentin. Ich fand es super, dass man bei der Planung der eigenen Moderation nicht auf sich allein gestellt war und stets Hilfe in Anspruch nehmen konnte. Jedoch war nicht nur die eigene Moderation eine wichtige Erfahrung: Das Teilnehmen an den Moderationen der anderen Kommilitonen war ebenfalls eine tolle gemeinschaftliche Erfahrung. Vor allem die Diskussionen nahmen oft einen interessanten Verlauf und gaben viel Aufschluss über verschiedene Meinungen von verschiedenen Persönlichkeiten. In diesem Zusammenhang empfand ich es als sehr angenehm, dass jeder seine ehrliche Meinung äußern durfte und es nicht „DIE“ richtige Meinung gab […]“.

Schlusswort

Leider findet die Kooperation zwischen Eltern, Lehrern und Erziehungswissenschaftlern in den staatlichen Schulen Russlands nicht statt, um Probleme gemeinsam sichtbar zu machen und Schule gemeinsam als soziale Bildungsinstitution zu innovieren. Anstatt auf Kooperation zu setzen, wählen die Eltern die Vermeidungsstrategie. Sie schicken ihre Kinder in private Schulen oder wählen die individuelle Bildung zu Hause, obwohl im Wechselspiel aller an der Bildung beteiligten Akteure und Interessenten genügend Chancen liegen, Schule und Bildung kooperativ zu gestalten.

Aktuelle internationale Studien haben ergeben, dass der Erfolg von Individuen nur durch Kooperation mit Anderen möglich ist (Kouses & Posner, 2002, Johnson & Johnson, 1987 und 2002). Daraus resultiert, dass Kooperation und Erfolg in enger Beziehung zueinander stehen. Des Weiteren ist bewiesen worden, dass Chancen auf Erfolg weniger wahrscheinlich sind, je ausgeprägter das Konkurrenzdenken von Individuen ist (ebd.). Auch die Ergebnisse aus umfassenden Untersuchungen mit hochpositionierten Geschäftsleuten, männlichen und weiblichen Studierenden sowie Schülern und Schülerinnen der Klassen 5 und 6 ergaben, dass bei allen Probanden-Gruppen die Korrelation zwischen Erfolg und Konkurrenz negativ war (Helmreich in Johnson & Johnson, 2002, S. 87). Kooperatives Lernen wurde auch für die Unterrichtspraxis als effektiv bewertet (Hattie, 2014, S. 251-254).

Der Mythos, dass die Welt sich um konkurrierende Individualisten dreht, basiert auf dem Grundgedanken „nur die Stärksten überleben“ des britischen Naturforschers Charles Darwin (1809-1882). In den letzten Jahren wurde eine erstaunliche Wende vollzogen. Hatten viele Evolutionsbiologen früher das „egoistische Gen“ als Antrieb der menschlichen Entwicklung bestimmt, so sprechen sie inzwischen der menschlichen Fähigkeit zur „Super-Kooperation“ diese Rolle zu (Dawkins, 2014; Nowak, 2013).

Kooperation hat das Potenzial für positive soziale Entwicklungen und beginnt bei jedem Einzelnen. Kooperation ist nicht objektiv und wird von Subjektivität und Einzigartigkeit der Gemeinsamkeit von Vielfalt getragen. Kooperation unterstützt die Entwicklung von Synergien und dem individuellen Selbst. Kooperation ist keine statische Größe und ist ohne kognitive Konflikte kaum möglich. Sie ist reparierender als auch unterstützender Bestandteil des Prozesses selbst und bedeutet dynamische Entwicklung der Gesellschaft. Entstehende Synergien sind wertvoll. Es ist Zeit, dass auch in Russland die Potenziale der Kooperation entdeckt werden, um Synergien zu unterstützen und Effektivität zu steigern. Die Schule in Russland im Sinne des „Treibhauses der Zukunft“ wartet darauf.

Literatur

  • Axelrod, R. (1984): The Evolution of Cooperation. New York: Basic Books.
  • Axelrod, R. (2009): Die Evolution der Kooperation (7. Aufl.). München: Oldenbourg.
  • Dawkins, R. (2014): Das egoistische Gen (2. Aufl.). Wiesbaden: Springer Spektrum.
  • Deutsch, M. (1949): A theory of cooperation and competition. In: Human Relations 2, pp. 129-152.
  • Durkheim, E. (1985): Individuelle und kollektive Vorstellungen. In: Durkheim, E. Soziologie und Philosophie (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Elias, N. (1987): Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Fussangel, K. & Gräsel, C. (2011): Forschung zur Kooperation im Lehrerberuf. In: Terhart, E. u.a. (Hrsg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster: Waxmann, S. 667-682.
  • Hattie, J. (2014): Lernen sichtbar machen. (Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von „Visible learning“ von Beywl, W. & Zierer, K.). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
  • Horster, L. & Rolff, H.G. (2001): Unterrichtsentwicklung. Grundlagen, Praxis, Steuerungsprozesse. Weinheim und Basel: Beltz.
  • Johnson, D.W. & Johnson, R.T. (1987): Research shows the benefits of adult cooperation. In: Journal of Educational Leadership, 45 (3), S. 27-30.
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Über die Autorin

Dr. paed., Dr. phil. Julia Koinova-Zöllner: Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Erziehungswissenschaft, Abt. Allgemeine Didaktik und Empirische Unterrichtsforschung, Fakultät für Erziehungswissenschaften, TU Dresden. Kontakt: Julia.Koinova-Zoellner@tu-dresden.de

Endnoten

i Beispiel der Interdependenz: peer – to – peer – Ebene

ii Beispiel der Interdependenz: peer – to – coaching – Ebene

iii Beispiel der Interdependenz: peer – to – peer – subordinate – Ebene

iv Im Text werden Auszüge aus studentischen Kommentaren und Reflexionsarbeiten anonymisiert und authentisch zitiert.

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